Die Autorin und Studentin des Studiengangs Kreatives Schreiben und Texten Larissa A. Jank präsentiert ihren Kurzprosatext „grenzenlos“
Stumm sitzt du auf einem blauen Sitz. In der Reflexion des Zugfensters siehst du deine blasse Haut und die dunklen Schatten unter deinen Augen – beides verrät den Schlafmangel der letzten Nächte. Tagelang hast du versucht, alles zu retten. Alle Fäden wieder aneinanderzuknüpfen, aber es sind einfach zu viele Stränge, die in deinem Leben gerissen sind. Ein Paar geröteter Augen blickt dich aus dem Fenster an – ein weiteres verräterisches Zeichen, dass du dich letzte Nacht wieder einmal in den Schlaf geweint hast. Niemals wolltest du es so weit kommen lassen und doch war es ein unvermeidbares Geschehen. Dein Leben wuchs dir über den Kopf; es drohte, dich zu erschlagen und dir auch noch den letzten Funken Lebenswillen zu stehlen, den du noch in dir trägst. Du darfst nicht vergessen – es gab einfach keinen anderen Ausweg mehr.
Du hast dir immer geschworen, diese eine feste Grenze niemals zu übertreten; es niemals allein mit der großen Welt aufzunehmen. Doch nun bist du im Begriff, genau dies zu tun. Du lässt all deine Vorsätze und Einschränkungen fallen und trittst dem Leben das erste Mal mit ausgebreiteten Armen entgegen. Du musst dir diese eine Frage stellen: ist das nicht der Sinn des Lebens – deine gesetzten Grenzen zu überschreiten, um dein wahres Ich zu erkunden?
Langsam gleitet dein Körper den Zugsitz hinunter und deine müden Augen schließen sich. Für diesen kurzen Augenblick ist alles verschwunden – deine Ängste, Sorgen und Gedanken. Alles, was dir bleibt, ist die bodenlose Schwärze um dich herum. Sie scheint kein Anfang und kein Ende zu haben – keinerlei Grenzen. Deine Vorstellungskraft beginnt erwünschte Momente und Szenarien vor deinem inneren Auge zu projizieren. Doch du blinzelst mühevoll diese Bilder weg und öffnest deine schweren Lider. Du musst wissen, dass du dich einfach nicht mehr in deiner grenzenlosen Fantasiewelt verlieren möchtest – das hast du schließlich schon viel zu oft getan.
Vor dem Fenster des Zuges beginnt sich die morgendliche Röte über die Landschaft zu ziehen. Die Natur scheint aus ihrem Schlaf zu erwachen und deine Augen beobachten dieses Schauspiel akribisch und deine Lippen formen ein sanftes Lächeln. Es ist schon lange her, dass du gelächelt hast, nicht wahr?
Dein Leben hat bisher immer einen geregelten Ablauf gehabt – es ist von Verpflichtungen und der Schule eingenommen worden. Doch nach deinem bestandenen Abschluss hast du entdeckt, wie wenig du von dieser großen Welt gesehen hast. Bist du nicht immer die Person gewesen, die sich mit den eigenen Gedanken unter Druck gesetzt und eingeengt hat?
Du weißt nicht, was deine Fesseln schlussendlich gesprengt hat. Oder den Grund, der dich dazu veranlasst hat, endlich deine Träume zu verfolgen. Doch noch weniger kannst du dir erklären, wieso du die für dich so besonderen Momente und Ereignisse nie ausgelebt hast. Wieso konntest du nicht über deinen eigenen Schatten springen?
Seit du denken kannst, willst du nur deine Kreativität ausleben. Du willst schreiben, du willst zeichnen, du willst fotografieren, du willst musizieren, du willst Dinge erschaffen und kreieren und vielleicht, ja vielleicht möchtest du auch endlich die große Liebe finden. Du hast immer gedacht, alles würde sich nach deinem Abschluss genauso zusammenfügen, wie du es dir immer gewünscht hast, oder?
Doch das hat es nicht getan – es ist niemals vorgesehen gewesen, dass es das tut. Nach einer weiteren schlaflosen Nacht hast du einfach weggehen müssen. Du hast das Gefühl gehabt, dass der nächste heranbrechende Tag dein Ende bedeuten würde. Deine Familie wird dir fehlen, aber du möchtest ja nicht für immer wegbleiben. Dein Leben hat sich bisher nie als einfach herausgestellt – zu viele Dinge haben dich Kraft gekostet und dich mit der Zeit in ein psychisches Wrack verwandelt. Dieser Schritt kostet Kraft, doch nun hast du ein Ziel vor Augen, nicht wahr?
Die Sonne wirft ihre wärmenden Strahlen durch das große Zugfenster und verspricht einen freundlichen Tag. Deine Laune hebt sich, als du einen Blick aus dem Fenster wirfst und einige Pferde auf einer Weide grasen siehst. So friedlich und stumm, dass es dir vorkommt, als würde die Welt für einen kurzen Moment stillstehen. In diesem Augenblick fühlst du dich so glücklich und so einsam wie noch nie zuvor. Du sehnst dich nach einer Person, mit der du über alles sprechen kannst – mit der du dich wahrhaftig grenzenlos fühlst.
Das letzte Jahr steckt dir besonders in den Knochen – selbst in deinen eigenen Wänden hast du das Gefühl gehabt, deinen persönlichen Leidenschaften keinen freien Lauf lassen zu können. Du hast dich nicht in deinen Taten, sondern in deinen Gedanken eingeschränkt und begrenzt gefühlt – über jeden Satz hast du nachdenken müssen, ob du ihn tatsächlich über deine Lippen bringen kannst. Vergiss nicht – nun wirst du alles hinter dir lassen.
Du greifst nach deinem schwarzen Rucksack und ziehst dein Handy und deine Kopfhörer heraus – nichts gibt dir mehr ein Gefühl der Grenzenlosigkeit, als Melodie in deinen Ohren. Eine Haarsträhne fällt dir immer wieder ins Gesicht und bringt dich kurzzeitig zum Lächeln. Sie gehört zu den vielen Dingen, zu den vielen Grenzen, die du niemals überschritten hast. Ewig schon spielst du mit dem Gedanken, deine Haare in einer anderen Farbe zu färben, doch niemals hast du den Mut dafür aufgebracht. Du musst versprechen, dass du das an deinem Ziel tun wirst.
Du beobachtest die Landschaft vor dem Fenster und entdeckst bei genauerem Betrachten ihre Schönheit in allen Facetten. Da draußen, irgendwo dort draußen wartet deine Zukunft, da bist du dir sicher. Nun wirst du nicht mehr davor zurückschrecken, die Welt tatsächlich zu entdecken, nicht wahr?
Allmählich beginnt sich die Nervosität in deinem Körper auszubreiten. Die Musik und die Natur haben dich zu fest im Griff, sodass du dein geplantes Ziel verpasst. Als du dieses Missgeschick bemerkst, bist du allerdings nicht wütend oder gar enttäuscht; du machst dir auch keinerlei Gedanken darüber. Das erste Mal in deinem Leben lässt du alles auf dich zukommen, lässt die gesetzten Grenzen fallen und planst auch keine neuen zu errichten. Denn du hast einen Entschluss gefasst, oder?
Ja, das habe ich. Nie wieder werde ich mich von meinen eigenen Barrieren hindern lassen, das zu tun, was ich liebe und möchte. Ich werde an der nächsten Station aussteigen, mir Haarfarbe kaufen und endlich mein Leben so gestalten, wie ich es mir immer vorgestellt habe.
Aber was treibt dich plötzlich dazu, dich deiner Neugierde hinzugeben, dein gewohntes Umfeld zu verlassen und deine Grenzen zu überschreiten – etwas Neues zu entdecken und niemals stillstehen zu wollen?
Ich habe keine präzise Antwort darauf – ich denke, die hat niemand. Aber ich hoffe, sie an meinem Ziel zu finden – in der neuen Stadt.
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Autorin: Larissa A. Jank studiert Kreatives Schreiben und Texten in Berlin an der SOPA (Berlin School of Popular Art)
Titelbild from Larissa A. Jank (@neptun_vii)