Ein Beigeschmack von Eitelkeit : vom Sein

Die Autorin und Studentin des Studiengangs Kreatives Schreiben und Texten Jasmin Hielscher präsentiert den ersten Teil ihres Textes Ein Beigeschmack von Eitelkeit – vom Sein

Prolog

Henri war ein furchtbar hässliches Kind gewesen. Manche Kinder waren eben nicht mit gutem Aussehen gesegnet, Henri war es noch viel weniger. Er hatte furchtbar dünnes und mausgraues Haar, das vorne und hinten keine klare Richtung fand, in die es fallen wollte. Er hatte winzig kleine Augen, eine verhältnismäßig große Nase und einen Mund, der die Breite eines Streichholzes kaum übertraf. Schon vor der Pubertät begannen übermäßig viele Pickel aus den Hautporen seines Gesichts zu sprießen und es wuchs ihm schon mit zehn Jahren leichter Flaum aus dem Kinn heraus, was für die anderen Kinder sehr belustigend war. 

Und seine Proportionen waren merkwürdig. Es wirkte, als wäre sein Körper an verschiedenen Teilen unterschiedlich schnell gewachsen. Seine Arme und die x-förmigen Beine waren sehr lang, sein Oberkörper und seine Füße, auch seine Hände dagegen sehr kurz. Er hatte außerdem einen kleinen Buckel, weil sein Kopf für den Rest des Körpers viel zu groß und schwer geraten war. Auch die Gedanken, welche sich in jenem Kopf befanden, waren übermäßig schwer für einen Jungen seines Alters. Diese sowie auch das Eigengewicht seines Hauptes reizten die Gravitation so stark, dass sie sich dafür entschieden hatte, den Kopf etwas mehr als bei seinen Altersgenossen zu Boden zu ziehen. Diese Tatsache erklärte den Buckel. 

Henri liebte Schokolade, besonders die mit Marzipan. Er aß sie mehrmals täglich und er aß auch alles andere, was irgendwie mit Schokolade oder Zucker generell in Verbindung stand. Henri war wirklich sehr verfressen. Aber darum kümmerte sich niemand, am wenigsten er selbst. Dementsprechend war Henri weit davon entfernt, schlank, geschweige denn sportlich zu sein. Er rollte eher, als dass er ging.

Aber vieles im Leben ändert sich oft unerwartet und unverhofft. Henri kam tatsächlich in die Pubertät, wuchs viel proportionaler als zuvor, die Pickel verschwanden schlagartig nach seinem 16. Lebensjahr, und der Flaum, der zuvor sein Gesicht verziert hatte, wurde durch einen amtlichen Bart ersetzt. Henri fing fleißig an, Sport zu treiben und sich bewusst zu ernähren. Nach nur zwei Jahren war er ein völlig neuer Mensch geworden: begehrenswert, beliebt und vor allem selbstbewusst. Er wirkte auf Mädchen und auf Jungen gleichermaßen attraktiv, war aber nur an Letzteren ernsthaft interessiert. Er war sich seiner neuen Schönheit bewusst und tat alles, um sie ja nicht wieder zu verlieren. Er legte so viel Wert auf sein Äußeres, dass ihm gar keine Zeit mehr übrigblieb, sich mit seinem Inneren zu beschäftigen. Das war der neue Henri. 

Es geschieht  

Henri liebte sein neues Zuhause. Nachdem er knapp über ein Jahr gesucht hatte, hatte er nun endlich eine bezahlbare Zweizimmerwohnung im heiß begehrten und liebenswert gentrifizierten Prenzlauer Berg gefunden. Auch noch in einer seiner Lieblingsstraßen, der Choriner Straße, die er wegen der vielen bunten Fähnchen liebte, die zwischen den Häusern aufgehängt worden waren. Sie verliehen der Straße stets eine fröhliche und gut gelaunte Atmosphäre und bei der Vielfalt an Grautönen, die Berlin den größten Teil des Jahres zu bieten hatte, war ein wenig Farbe beim Blick aus dem Fenster keine schlechte Angelegenheit. Da es die erste eigene Wohnung nach der Trennung von seinem Freund Thomas gewesen war, war die liebevolle Einrichtung ein symbolischer Neustart gewesen und deshalb umso wichtiger. So hatte er sich alles an Hab und Gut, was eine Wohnung bedurfte, neu zugelegt. Alles bis auf eine alte, barocke Kommode, die ein Erbstück mütterlicherseits war. Für Henri besaß sie einen großen emotionalen Wert. 

Deshalb hatte sie auch einen Platz in seinem Schlafzimmer bekommen, auf der rechten Seite des Raumes, an einer der beiden unverputzten Wände. Über sie hängte Henri einen horizontal-ovalen Spiegel mit einem antik aussehenden, silbern verzierten Rahmen. Er fand, das passte so. Da das Licht im Schlafzimmer besser als im Bad war, richtete er vor diesem Spiegel nun täglich seine Kopfhaare, deren Form und Farbe ihm äußerst wichtig waren. Trotz des Spiegels fehlte ihm noch etwas Lebendigkeit und so entschied er sich, einen Obstkorb aus Bast auf die Kommode zu stellen. Es hätte natürlich auch eine Pflanze sein können, jedoch hatte Thomas Topfpflanzen sehr geliebt und weil die Trennung noch so frisch war, erinnerten sie Henri zu sehr an ihn. Ihr Anblick hinterließ ein unangenehmes Ziehen in der Magengegend. Außerdem bot Obst eine viel intensivere Bandbreite an Farbspektren – das gefiel ihm. Gefüllt war jener Korb vorrangig mit Birnen und Äpfeln, Henris Lieblingsobst. Er holte sie wöchentlich frisch auf dem nächstgelegenen Wochenmarkt, dem am Kollwitzplatz. Gestern war Samstag gewesen, also ein Markttag. Seitdem leuchtete das frische Obst herrlich in dem beigen Bastkorb, für den Henri sich entschieden hatte. 

Es lachte ihm förmlich entgegen, also griff er sich die oberste Birne und biss herzhaft hinein, als plötzlich sein Telefon zu klingeln begann.

Es war Thomas. Henri wartete zwei ‚Classic Ringbell‘ Laute ab, bis er das Gespräch annahm. Schon nach dreißig Sekunden Gesprächszeit verging ihm der Appetit und er legte die Birne wieder zurück in den Obstkorb. Vielleicht würde er später noch einmal auf sie zurückgreifen. 

Epilog  

Eine Woche war Henri nun nicht mehr zu Hause gewesen. Hals über Kopf hatte er aufbrechen müssen, nachdem Thomas ihm gestanden hatte, während seines Auszugs heimlich seine Beautyproduktreihe für gesunde Haut und Haare entwendet zu haben. Es waren die einzigen Produkte, welche erfolgreich gegen Henris Haarausfall wirkten, und aus diesem Grund essenzielle Bestandteile seines Lebens. Aus Wut war Henri auf direktem Wege zu Thomas gefahren, um sich sein Hab und Gut zurückzuholen. Das jedoch war keine gute Idee gewesen, denn bei Thomas’ Anblick kamen die alten Gefühle wieder hoch und wie die restliche Woche dann verlief, erklärt sich vermutlich von selbst. 

Als Henri nun in sein Schlafzimmer trat, empfing ihn ein unangenehm beißender und leicht süßlicher Geruch. Henri erschrak, da er ihn nicht sofort zuordnen konnte. Doch dann fiel sein Blick auf die Kommode beziehungsweise auf den frisch gekauften Obstkorb und das mittlerweile nicht mehr frisch gekaufte Obst, das sich noch darin befand. Auf die Birne, die Henri im Moment der Botschaft angebissen zurückgelegt hatte. Natürlich war diese geschimmelt und Schimmel hatte nun auch den gesamten Inhalt des Korbes erobert. Daher rührte der Gestank. Sich mit einer Hand die Nase zuhaltend ging er auf den Obstkorb zu und griff ihn mit der anderen, um ihn so schnell wie möglich in die Biomülltonne zu verfrachten. Erneut war ihm jeglicher Appetit schlagartig vergangen. 

Der zweite Teil des Textes kommt am 13.09. online.

Autorin: Jasmin Hielscher studiert Kreatives Schreiben und Texten in Berlin an der SOPA (Berlin School of Popular Arts)

Foto von @Jasmin Hielscher

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