Die Autorin Sabrina Dörr, Studentin des Studiengangs Kreatives Schreiben an der SOPA (Berlin School of Popular Arts), stellt ihren Text Personalpronomen und die literarische Identitätskrise vor.
„Wer bist du?“
Meine Hände beben. Der Schweiß ist eklig und warm. Ich höre, wie meine Stimme zittert und hasse, wie meine Stimme zittert. Mit wem spreche ich gerade? Ich spüre alles viel stärker als sonst, bin mir viel zu bewusst, dass ich gerade lebe. Aber irgendwie fühle ich mich gleichzeitig weit entfernt. Bin ich wirklich hier? Kann ich mir selbst vertrauen?
Wer bin ich?
Ich bin Sabrina. Ich sitze an meinem Schreibtisch mit offenem Laptop vor mir, oder ich sitze an meinem Schreibtisch mit offenem Notizbuch vor mir, oder ich sitze auf dem Sofa oder dem Bett mit offenem Laptop oder Notizbuch vor mir. Ich weiß, wer ich bin. Meine Hände beben nicht, meine Stimme zittert nicht und ich spreche nicht. Zumindest nicht laut. Ich befinde mich in einem Dialog mit dem leeren Dokument, der unbeschriebenen Seite. Sie fragt mich, wer ich bin. Sie klingt wie ich. Heißt das, dass ich hier für mich selbst schreibe? Oder doch für andere? Vielleicht beides?
Eigentlich habe ich schon eine Geschichte im Kopf. Nur weiß ich gerade nicht, wie ich anfangen soll – dabei muss ich mich nur für ein einziges Wort entscheiden, um zu beginnen. Aber ist dieses eine Wort „ich“, ist es „du“, ist es „er“ oder „sie“ oder „es“, ist es „wir“, ist es „ihr“?
Heute tendiere ich zu dem „ich“. Das würde heißen, dass ich schon wieder zulasse, dass mein Text und ich miteinander verschwimmen. Aber will ich das heute? Ich bin Verfasserin von fiktiven Geschichten. Das ist meine Leidenschaft, meine Identität. Und ich schreibe eigentlich nicht autobiographisch.
Oder doch? Ist nicht immer etwas von mir in meinen Texten, auch wenn es mir selbst nicht immer ganz klar ist? Irgendwo bin ich immer mit drin, ob ich nur auf einer Seite kurz hinter einem Absatz hervorgucke, oder ob ich im gesamten Text Spuren von mir hinterlassen habe.
Heute liegt mir etwas auf dem Herzen. Gut, dann baue ich es eben in einen Text ein, verarbeite es ein bisschen – denn irgendwie habe ich nie gelernt, das ohne Schreiben zu tun. Ich könnte mein Problem ja schön fiktionalisieren, in Metaphern verbergen, dann kann ich irgendwann selbst nicht mehr unterscheiden, was erfunden ist und was nicht. Ich könnte eine Protagonistin entwerfen, die das genaue Gegenteil von mir verkörpert (dann vielleicht doch eher einen Protagonisten) und mich dahinter verstecken. Benutze ich die Ich-Perspektive in diesem Text, fühle ich mich trotzdem etwas nackt, entblößt, ungeschützt. Leser*innen sind schlau. Sie können mich doch bestimmt durchschauen. Oder? Könnt ihr das?
Gut, dann nehme ich vielleicht die verschobene Ich-Perspektive. Ich projiziere mein Anliegen auf irgendein namenloses Du, das auf dem Blatt kein Gesicht hat, im Kopf der Leser*innen aber vielleicht, und in meinem sowieso.
Deine Hände beben und schwitzen. Deine Stimme zittert. Du hasst es, wenn deine Stimme zittert. Du bist dir nicht sicher, mit wem du sprichst. Du spürst alles stärker als sonst, als ob du in diesem Moment mehr existierst als je zuvor. Und zugleich hast du das Gefühl, außer dir zu sein. Wer bist du? Wenn du es nicht weißt, kann dir keiner mehr helfen.
Fühlt ihr euch angegriffen? Ja? Ich mich auch. Warum schreibe ich auf einmal so anklagend, wenn ich das „ich“ in ein „du“ ändere? Ich schreibe trotzdem noch von mir selbst, von meiner eigenen Unsicherheit. Dabei geht es doch im Kern nur um die Wahl einer Perspektive, eines Personalpronomens – das ist so banal, dass es mir schon wieder so verdammt schwierig erscheint. Zwingt mich die Du-Perspektive, wertender auf mich selbst zu schauen? Erlaubt sie mir es erst, überhaupt auf mich zu schauen? Stecke ich, wenn ich aus der Ich-Perspektive schreibe, dafür zu sehr in mir selbst, in meinem Inneren, und ist meine Sicht dann zu bedeckt? Wäre das überhaupt schlimm? Viele Leser*innen mögen persönliche Texte, ich selbst doch auch.
Wobei diese Du-Perspektive eigentlich auch etwas sehr Intimes an sich hat. Dann erzeugt wohl nicht nur das „ich“ Unmittelbarkeit.
Ich verwirre mich gerade selbst. Lasst uns einfach weitermachen.
Unsere Hände beben. Wir wissen nicht, wer wir sind. Wenn wir zu sprechen versuchen, zittern unsere Stimmen. Sollen wir das Sprechen dann lieber lassen, oder ist es wichtig, dass wir im Austausch sind? Wir wissen nicht, ob wir alle gleich sind, ob wir die gleichen Meinungen teilen. Verbindet uns die Welt, in der wir uns befinden, oder entfremden wir uns dann von uns selbst, verlieren wir den Bezug zur Realität? Wer sind wir?
Jetzt hinterfrage ich mich schon wieder. Habe ich das Recht, für euch zu sprechen? Empfindet ihr euch überhaupt als Teil von dem „wir“, von dem ich schreibe? Normalerweise lasse ich diese Perspektive. Ich kann doch nicht von Leuten erzählen, die ich nicht kenne. Dabei tue ich das doch jedes Mal, wenn ich eine fiktive Figur erschaffe. Und wenn ich kein fiktives „wir“ benutzen dürfte, dann dürfte ich doch auch kein fiktives „ich“ und kein fiktives „du“ benutzen. Dann dürfte ich gar nicht mehr schreiben.
Vielleicht stammt die Unsicherheit in diesem Fall auch nur daher, dass ich wenig Erfahrung mit dem Personalpronomen „wir“ habe? Lasst uns doch einfach mal zurück zu den Wurzeln der fiktionalen Literatur gehen.
Seine Hände beben. Er weiß nicht, wer er ist. Er fragt sie, doch sie hat keine Antwort für ihn, starrt ihn nur ausdruckslos an. Vielleicht ist keine Antwort auch besser, vielleicht will er es gar nicht wissen. Er spürt den Boden unter den Füßen und den Wind um die Ohren. Es ist warm und ihm ist kalt. Die Welt dreht sich weiter und die Stille auch.
Übrigens ist mir gerade aufgefallen, dass ich in jedem Absatz auch am Inhalt etwas verändere, und nicht nur die Pronomen. In diesem Fall ist das Textfragment poetischer geworden, vielleicht auch hochtrabender und klischeehafter. Offensichtlich schreibe ich je nach Pronomen einfach anders. Dieser Absatz fühlt sich am unpersönlichsten an. Vielleicht liegt es daran, dass ich der 3. Person in der Literaturwelt am häufigsten ausgesetzt bin. Oder weil ich oft darauf zurückgreife, wenn ich in Sachen Personalpronomen unentschieden bin. Auch das ist nicht schlimm. Auch da steckt noch etwas von mir drin – und sei es nur eine Figur, die ganz leicht an meine Grundschullehrerin, die Kassiererin aus dem Biomarkt, den ich als Kind immer besucht habe, oder den Ex-Freund meiner besten Freundin angelehnt ist.
Es fehlen jetzt noch einige Personalpronomen, die ich an meinem Textfragment austesten könnte. Aber Hinterfragen macht müde und ich merke, wie das Gespräch zwischen mir und der Seite langsam stockt.
Breche ich jetzt ab, weil ich nicht mehr weiter weiß? Oder doch, weil ich hungrig bin und einen Snack brauche? Ich bin mir nicht sicher – aber das ist ein anderes Thema, das euch nicht interessieren muss.
Vielleicht schreibe ich ja noch einen anderen Text über Hunger, über meinen Snack-Entscheidungsprozess. Das weiß ich noch nicht. Ich weiß nur, dass Literatur alles darf. Und dass die unbeschriebene Seite immer für mich da ist, ganz egal was am Ende dabei rauskommt.
Autorin: Sabrina Dörr studiert Kreatives Schreiben und Texten in Berlin an der SOPA (Berlin School of Popular Arts)
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