Dreckig, rau und brutal. So lässt sich sowohl die Musikrichtung Grime, eine Mischung aus Hip-Hop und Elektroelementen, als auch das 2019 veröffentlichte Buch von einer der wohl wichtigsten deutschsprachigen Autor:innen unserer Zeit beschreiben. Kinder werden misshandelt, der Staat überwacht alles und jeden, es gibt keinerlei Hoffnung. In dieser Welt möchte man wirklich nicht leben. Oder tun wir das schon längst?
Rochdale, England nach dem Brexit. Algorithmen ersetzen die Menschen, Neoliberalismus die Demokratie, Überwachung die Freiheit. Die extreme Armut steigt, und Kinder aus mittellosen Verhältnissen haben keine Perspektiven. Sie sind komplett auf sich allein gestellt, verenden im Drogensumpf und werden ständig mit psychischer und physischer Gewalt konfrontiert. Der Handlungsort ist hierbei nicht zufällig gewählt: England. Der Ursprung des modernen Kapitalismus. Eines der Länder mit der am stärksten ausgeprägten neoliberalen Politik dient hier als abschreckendes Beispiel. Der Traum von stetigem Wachstum ist eine Illusion, einige wenige füllen sich die Geldbörsen, während der Großteil der Gesellschaft abgehängt wird.
Diese Welt lernen wir hauptsächlich durch die Protagonist:innen Don, Karen, Hannah und Peter kennen. Dennoch fällt es schwer, sich auch nur mit einem der Charaktere zu identifizieren. Sie müssen das ganze Buch über leiden. Egal, ob sich ein Elternteil das Leben nimmt, sie von dem neuen Partner der Mutter verprügelt oder von einem vermeintlichen Freund zur Prostitution gezwungen werden: Ich habe mich zur eigenen Sicherheit beim Lesen von den Hauptpersonen abgegrenzt. Und damit offenbart uns dieses Buch auf drastische Art und Weise einiges über uns selbst: Wir versuchen so lange wie möglich wegzugucken, aus Angst, selbst in den Abgrund gezogen zu werden.
Und eines muss klar sein: Dieses Buch ist keine leichte Abendlektüre, sondern soll die Lebenswirklichkeit vieler Menschen ungeschönt aufdecken. Deutlich wird das durch die übertrieben brutale und bedrückende Ausdrucksweise. So heißt es unter anderem: „Wozu lasst ihr die Kinder in ihrem Urin vor dem Bett hocken, in dem ihr besoffen liegt oder mit irgendjemandem fickt. Ihr geilt euch an den kleinen Knochen auf, die so leicht brechen […] Und dann seht ihr sie an, glasig, und hasst sie in ihrer Bedürftigkeit, die eurer so ähnlich ist”. Auch der Lesefluss wird ständig unterbrochen, da Satzzeichen und Zeilenumbrüche an falscher Stelle eingefügt werden, was die Lebensrealitäten der Protagonist:innen widerspiegelt, die eben auch nicht „flüssig“, ohne Komplikation verläuft, sondern durch ständige Rückschläge gekennzeichnet ist. Es gibt für keinen einzigen Charakter irgendeine Art von Hoffnung oder Perspektive. Sie sind geboren, um zu sterben. Deutlich wird hierbei die Systemkritik, die sich durch das gesamte Buch zieht. Es gibt kein funktionsfähiges Sozialsystem, das von der Gesellschaft ausgeschlossene Menschen wie Don, Karen, Hannah und Peter auffängt. Die Lage verschlimmert sich von Tag zu Tag. Auch für die Leser:innen bleibt keine Hoffnung.
So ist auch schwierig einzuschätzen, was Berg mit diesem Buch erreichen will. In einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur sagte sie, dass es keine Warnung sei. „Ich denke, was ich versucht habe, ist, in dem Buch viele Sachen sichtbar zu machen, die im Moment so unfassbar um uns wabern, also sprich die Überwachung, die Digitalisierung, vor der sehr viele sich fürchten, die Roboter kommen und nehmen uns die Arbeitsplätze weg.”
Das gelingt ihr zum einen sicherlich, zum anderen ist es für die Leser:innen auch ein 634 Seiten langer Kampf, bei dem sich manche Abschnitte zu lang und repetitiv anfühlen, vor allem wenn zum wiederholten Male das Leid der Protagonist:innen ausgeschlachtet wird.
Das nervige D-Wort (Sie wissen schon)
Dystopie. Ein Wort, das Sibylle Berg nicht leiden kann, weil es mittlerweile für alles verwendet wird, wie sie im Podcast Fest & Flauschig erzählt, und doch in Teilen auf ihr Buch angewendet werden kann. Denn obwohl viele Inhalte bereits von der Realität eingeholt wurden, hat das Buch auch (bis jetzt) fiktive Seiten. So wird im Roman ein Grundeinkommen in Großbritannien eingeführt: „Es gab ein – Grundeinkommen. Alles würde gut werden. Der Meeresspiegel stieg weiter, die Eisberge schmolzen, die Rohstoffe wurden weniger, als sei nie etwas geschehen, waren alle zu ihrer Religion zurückgekehrt. Dem Einkaufen“. Doch wer ein Grundeinkommen erhalten will, muss sich einen Chip implantieren lassen, der einen Tag und Nacht überwacht. Die Menschen nehmen dennoch dankend an, eine Welle der Entrüstung bleibt aus.
In diesem Buch gibt es keinen Widerstand, kein Aufbäumen gegen den Staat; die Menschen nehmen gleichgültig alles hin, solange sie in Ruhe gelassen werden. Und so ist es nur konsequent, dass auch die Protagonist:innen sich schlussendlich anpassen. Die totale Überwachung ist perfekt, die Menschen sind zufrieden.
„Nicht schlimm, nur anders“
GRM ist Brainfuck. Durch und durch. Man würde es sich zu leicht machen, das Buch einfach nur als Kritik am Kapitalismus und an der Digitalisierung zu verstehen. Sibylle Bergs literarischer Stil war stets von einer sehr eigenen Haltung geprägt. So entgegnete sie etwa 2018 in einem Interview mit dem Tagesspiegel, in dem ihre Werke als düster beschrieben wurden: „Düster? Serious? Ich finde, wenn schon, realistisch ein gültigeres Adjektiv.”
Die Welt, in der wir leben, verändert sich. Das ist der Lauf der Dinge und das ist auch gut so. Allerdings fällt es schwer, diesen Worten nach dem Lesen des Buches noch glauben zu können. Denn eines wird deutlich: So eine Welt kann niemand von uns wollen.
Sibylle Berg: GRM. Brainfuck. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019. 640 Seiten, 14 Euro.
Autor: Julian Ungerer studiert Medienmanagement mit dem Schwerpunkt Journalismus & PR an der SOPA (Berlin School of Popular Arts).
Titelbild von Julian Ungerer