Die Autorin und Studentin des Studiengangs Kreatives Schreiben und Texten Claudia A. Schröttner präsentiert ihren Text „Tage wie diese – Ein Wörterbeifallstanz für Sommerfestivals„
Wo sind diese Tage
An denen wir glaubten
Wir hätten nichts zu verlieren?
Wir machen alte Kisten auf
Holen unsere Geschichten raus
Ein großer, staubiger Haufen Altpapier
Wir hören Musik von früher
Schauen uns verblasste Fotos an
Erinnern uns, was mal gewesen war
(Altes Fieber, Die Toten Hosen)
Ich erinnere mich an lehmverschmierte Füße, von der Sonne aufgebrannte Beine, Morgenbier im Bauch, Büstenhalter als Standardkleidungsstück, Gesternbier im Haar und Freiheitsfahne im Kopf. Es war eine Zeit vor der Pandemie, als die meisten Menschen noch keine Angst vor Gruppenansammlungen hatten. Es war die Zeit, als ich entdeckte, dass zwei Tage ungewaschene Leiber nicht das nicht das Schlechteste auf der Welt sind. Wir waren eine große Gruppe, ein staubiger Haufen an jungen Männern und Frauen. Neben Familienzelte, Sitzmöglichkeiten und Sonnenplanen brachten wir auch eine Shisha und einen Kühlschrank voller Bier mit. Ein Tennisball für sportliche Betätigungen wie Flunkyballturniere durfte nicht fehlen. Nie mehr werden wir so jung zusammenkommen, wie wir in jenem Sommer zusammengekommen sind.
Ich erinnere mich, es dauerte eine kleine Weile, bis ich das Gefühl hatte, angekommen zu sein. Die Festivalwiese, auf der wir unsere Zelte stellten. Das Festivalgelände mit Imbissständen und Vergnügungsattraktionen. Die drei Bühnen, die Tag und Nacht von unterschiedlichen Rockbands bespielt wurden. Wie die hungrigen Bienen flogen wir von einer Stelle zu anderen und berauschten uns an der Süße des Angebots. Nur, dass es keine Bienenkönigin gab, der wir irgendetwas schuldig waren. Wie der eine Tag endete, so begann der nächste und ganz plötzlich war da dieses eine Gefühl. Etwas, das ich nie zuvor in dieser Intensität gefühlt hatte: Freiheit. Eine Freiheit, die sich endlos anfühlte. An Tagen wie diesen. Unser Platz auf der nach Regen nasslehmigen Wiese fühlte sich ein kleines bisschen wie Zuhause an und viel mehr als so manches, wo unsere Meldeadresse war. Unsere Gruppe hielt zusammen, kümmerte sich umeinander, auch bei Streit – war ein kleines bisschen wie Familie und viel mehr als so manche biologische. Am Frühstückstisch saßen Frühaufsteher:innen schon mit Bieren in der Hand und begrüßten die mit schlaftrunkenen Augen aus den Zelten Kriechenden. Nach dem Brot-und-Eier-Frühstück eine Runde Flunkyball. Wir versuchten möglichst oft eine Plastikflasche umzuwerfen und unsere Biere vor der gegnerischen Mann:Frauschaft auszutrinken.
„Hey ihr Hosenlosen schummelt nicht! Nicht auf den Oberkörper verschütten! Trinken! Stopp, die Flasche steht!“
Wir zauberten mithilfe von Stromaggregaten und Campingkocher aus Instantlebensmitteln eine Himmelsmahlzeit für alle, auch Kaffee gab es im Festivalparadies. Mit glücklichen Gemütern und gefüllten Mägen spazierten wir vom Campinggelände zum Festivalgelände, ein bisschen Rockmusik, ein bisschen Vergnügungsfahrt. Je später es wurde, umso mehr stieg die Stimmung.
„Also! Auf zum Moschen!“
Dies bedeutete für uns, ein in der Menge gegenseitiges Anspringen zum Takt der Musik – und einst ganz ohne Mundschutzmaske. Und fast wie beim Sex, als es am schönsten war, kam der Höhepunkt. Der Auftritt von Die Toten Hosen. Die Menschen gingen ab und keiner mehr als ich. Ich vermischte mich symbolisch mit der Menge, ich vermengte mit der sommerlichen Staubesluft, ich zerfloss in die Töne, die Zellen meines Körpers sprangen auf und ab. Es war ein Beifallstanz für Tage wie diese.
An Tagen wie diesen
Wünscht man sich Unendlichkeit
An Tagen wie diesen
Haben wir noch ewig Zeit
Wünsch‘ ich mir Unendlichkeit
Das hier ist ewig, ewig für heute
Wir steh’n nicht still für eine ganze Nacht
Komm, ich trag‘ dich durch die Leute
Hab‘ keine Angst, ich gebe auf dich Acht
Wir lassen uns treiben, tauchen unter
Schwimmen mit dem Strom
Drehen unsere Kreise, kommen nicht mehr runter
Sind schwerelos
(Tage wie diese, Die Toten Hosen)
Die Menschen hoben mich hoch und trugen mich auf ihren Händen. Ein Stück lang. Für die Ewigkeit. Wir tanzten mit der Menge, die Hände in die Höhe, hin und her und so auch die Hüften und so auch die Füße. Ein Arm manches Mal um uns, eine Hand meist um ein Plastikbiergefäß. Ich berührte sommerwarme Haut, Glitzersteinchen funkelten im Licht. Wir alle waren eine Gruppe, unsere Herzen klopften, es waren Haut-/Geist-/Seelenberührungen, Haut-/Geist-/Seelenloslassungen, es war Bier, Fritten und Rock ’n’ Roll.
Und ganz plötzlich war da diese eine Person, die ich nie zuvor in dieser Intensität bemerkt hatte: Mich. Zumindest ein Teil von meinem ganzen Ich. Der herzrasige, sommersprossige, hyperventilierende Sommerfestival ausgelassene Teil. Dieser Teil von mir tanzte, als gäbe es kein Ende, als hätte ich noch ewig Zeit. Und alle anderen Teile tanzten mit. Ein Beifallstanz für Tage wie diese und alle sangen mit.
„Wir lassen uns treiben, tauchen unter, schwimmen mit dem Strom, drehen unsere Kreise, kommen nicht mehr runter, sind schwerelos.“
Autorin: Claudia A. Schröttner studiert Kreatives Schreiben und Texten in Berlin an der SOPA (SRH Berlin School of Popular Arts)
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