WER WIR SIND

Wir stehen im Badezimmer und putzen Zähne. Unsere Blicke treffen sich im Spiegel. Ich muss grinsen, wobei mir etwas Zahnpastaschaum aus dem Mund tropft. In letzter Sekunde beuge ich mich über das Waschbecken und der Klecks landet auf Keramik. Du stößt ein Schnauben aus, auch deine Mundwinkel heben sich gefährlich, dann gibst du unverständliche Laute von dir. Worte, die in deinem Kopf Sinn ergeben, aber beim Transport zu mir von der Zahnbürste in deinem Mund verschluckt werden.
Ich frage mich, wie oft wir schon Dinge gedacht haben – über uns selbst, über einander –, die nie unsere Lippen verlassen haben. Laut und in Farbe. Ein Gedanke, der immer wahrscheinlicher wird, je besser wir uns kennenlernen. Dabei dachte ich, ich kenne dich schon längst. Ich kenne dich, seit ich lebe. Du kennst mich, seit ich lebe. Seit dreiundzwanzig Jahren. 

Ich schrubbe ausgiebig die Innenseite meiner Backenzähne, als du ausspuckst und zur Gesichtsroutine übergehst. Ein Bild, so unerwartet, dass ich wieder lachen muss. Diesmal landet der Klecks auf meinem T-Shirt. Es ist mir egal. 

„God damn, du bist ja richtig im Game”, sage ich und lege den Kopf in den Nacken, um wenigstens den Rest Zahncreme im Mund zu behalten. Meine Worte nur wenig artikulierter als deine eben, während ich dir dabei zusehe, wie du eine grünliche Paste von deinem Gesicht spülst. Deine braunen Haare fallen dir dabei in die Stirn und geraten unter den Wasserstrahl. 

„Hm?“, machst du nur, damit dir das Zeug nicht in den Mund läuft. Ich weiß genau, wie scharf das schmeckt. Auch deine Augen kneifst du fest zusammen. Genau wie früher. Ich lehne mich neben dir über das Waschbecken und spucke aus. 

„Ne richtige skin care routine“, füge ich hinzu und dann: „Brauchst du ein Haargummi?“ 

Mit gebeugtem Rücken und tropfendem Gesicht drehst du dich zu mir um.

„Hast du eins?“
„Nö. Aber ich könnte eins sein.“ Grinsend stelle ich mich hinter dich und strecke meine Hände aus. Dein Spiegelbild grinst zurück. So vorsichtig wie ich kann, streiche ich mit meinen Fingern über deine Stirn, sammle alle nassen Haare ein, die ich finde, und streife sie zurück. Halte sie dort zusammen wie ein lebendiges Stirnband. 

„Oh mein Gott, viel besser“, sagst du. „Danke!“

Wir müssen beide lachen, als ich dich in derselben Position zum Handtuchhalter begleite. Beide Hände an deinem Kopf. Fest und sanft. 

„Krass, wie Mama uns beeinflusst hat“, sagst du wenig später und deutest auf meine Zahncreme. Elmex mentholfrei. Du hast die gleiche. Nebeneinander sehen sie aus wie Zwillinge. Ich gucke in den Spiegel und sehe dich, obwohl ich mich ansehe. Deine Züge in meinem Gesicht. Oder ist es andersherum? 

„Seit wann sehen wir uns eigentlich so ähnlich?“ Deine Stimme, meine Gedanken. 

„Seit wann sind wir uns eigentlich so ähnlich?“, frage ich zurück und schaue dich an.
Nicht im Spiegel, sondern richtig. In echt. Und als sich unsere Blicke diesmal treffen, ist etwas anders. Als wären wir zwei Kinder und zugleich zwei Erwachsene. Und als wüssten wir beide, dass das der Moment ist, um die Lücke zu füllen. Zwischen gestern und heute. Zwischen uns. 

Du setzt dich auf den geschlossenen Klodeckel, ich mich auf den Hocker daneben. Und dann erzählen wir uns, wer wir sind.

Autorin: Tabea Neu studiert Kreatives Schreiben und Texten an der Berlin School of Popular Arts (SOPA).

Titelbild: Tabea Neu

Spread the love