Vom Lesen und Schreiben im digitalen Zeitalter, Fanfiction und der Magie von Veränderung
von Nadja Lerch
Ein Umzugskarton voller Bücher
Zwei Umzugskartons, zwei Koffer und ein paar Beutel, das ist alles, was ich in meine neue Wohnung mitnehme und in den neuen vier Wänden verstaue. Als ich während des Auspackens einen der Kartons öffne, schlägt mir ein vertrauter Geruch entgegen und ich halte inne. Er erinnert mich an früher, an verregnete Nachmittage, an Abenteuer und Gefahren, an unentdeckte Wege. Stundenlang habe ich als Kind damit verbracht, hinter Büchern zu verschwinden, die Welt zu vergessen und eine neue zu betreten, ehe ich dann selbst zu Stift und Papier gegriffen und schreibend die Türen zu neuen Welten geöffnet habe. Charaktere wurden zum Leben erweckt und auf die wildesten Abenteuer geschickt.
Die Welt dreht sich weiter
Heute haben sich die Dinge etwas geändert. Ich bin bereits mehrmals umgezogen, die Sammlung meiner Lieblingsbücher passt jetzt in einen Karton. Außerdem schreibe ich öfter am Laptop, statt mit Stift und Papier, und nachts ist es eher das Display meines Handys, das mein Gesicht erhellt, als das Licht der Nachttischlampe neben einem Buch.
Es sind längst nicht mehr nur die gedruckten Romane, die mich fesseln; mittlerweile gibt es neue Arten des Schreibens, des Lesens. Wir leben in der Zeit von Fanfiction, jener Art der Literatur, die von vielen noch belächelt, als „Teenie-Müll“ oder irgendwelche verqueren Fantasien abgetan wird. Dabei wird leider außer Acht gelassen, von welch hoher Qualität diese Texte oft sind.
Von Fans für Fans
Ein kurzer Exkurs: als Fanfiction bezeichnet man all das, was von Fans für Fans geschrieben wird. Egal, für was man sich begeistert, Serien, Filme, Computerspiele, Bücher und noch mehr, der Fantasie sind da keine Grenzen gesetzt. Es sind vertraute und weniger vertraute Universen, mit Charakteren, die man kennt und liebt, und neuen, die man lieben lernt, so wie bei jeder Geschichte.
Fanfictions reichen von Ereignissen, wie sie im Rahmen des „Ursprungsmaterials“ hätten passiert sein können, über kleine Anekdoten, die wunderbar bis komplett verrückt sind, bis hin zu neuen Szenarien in anderen Universen, die die Lesenden überraschen und nicht selten bis zu Tränen rühren. Oder es sind Fortsetzungen, Neuschreibungen, „Was wäre, wenn“- Szenarien – ja, was wäre, wenn Serienautoren die Entwicklung ihrer Charaktere konstant halten würden? Wenn sie nicht alles in der letzten Staffel über den Haufen werfen würden, nur um des Dramas und des Schocks willen? Und ja, ich rede an dieser Stelle von Game of Thrones, verzeiht mir, ich bin immer noch bitter deswegen.
Das ist nur ein Beispiel, wo die Hoffnungen vieler Fans am Ende enttäuscht wurden. Wer dieses Gefühl kennt oder wer findet, dass zwei Charaktere einfach zusammen gehören, selbst wenn die Autoren das nicht so sehen, oder wer sich einfach mehr Geschichten mit seinen Lieblingscharakteren wünscht, der ist bei Fanfiction bestens aufgehoben.
Verdammt kreativ
Oftmals habe ich beim Lesen verschiedener Fanfictions geweint, gelacht und mehr als einmal innegehalten und das Gelesene wirken gelassen. So wunderbar waren die Worte gewebt, so treffend die Charaktere beschrieben, so passend wirkte es, so nah. Und so verdammt kreativ.
Zu sagen, dass Fanfiction keine richtige Fiktion ist, keine richtige Literatur, ist wie zu behaupten, dass Coverversionen und Interpretationen keine Musik sind. Als würde man den Dingen dadurch den Wert nehmen. Das Gegenteil ist der Fall. Die Autoren von Fanfictions hauchen Charakteren neues Leben ein, ihre Texte fesseln uns wie andere Geschichten auch. Vor allem aber machen sie Spaß, sie machen glücklich,und ist das nicht die Hauptsache?
Dazu kommt, dass die AutorInnen ihre teils hochqualitativen Werke kostenlos zur Verfügung stellen, einfach nur, weil sie selbst so große Fans sind, dass sie ihre Ideen mit anderen teilen möchten. Außerdem stehen sie oft durch Kommentare oder Blogs in direktem Kontakt mit ihren LeserInnen. Das öffnet ganz neue Möglichkeiten, für mich als Leserin, aber eben auch für mich als Autorin.
Alte Freunde auf neuen Wegen
Ja, die Welt dreht sich weiter und ja, wir entwickeln uns. Das Leben ist voller Umzüge, voller Veränderungen und das ist auch gut so. Denn jetzt sind es eben nicht nur meine Charaktere, meine eigenen Welten, zu denen ich die Türen öffne, sondern bereits bestehende Figuren, die ich selbst liebe, die mich faszinieren und die ich auf neue Reisen schicke.
Es sind alte Freunde auf neuen Wegen. Die Geschichten sind neu, aber die Charaktere und Welten sind vertraut, wie gute Bekannte, wie Stift und Papier. Wie der Geruch von Büchern.
Und wer jetzt neugierig geworden ist, hier sind ein paar Fanfiction-Seiten:
Ao3, mein persönlicher Favorit (englisch)
Fanfiction.net, eine der ältesten Plattformen (englisch)
Fanfiktion.de, eine deutsche, sehr übersichtliche Alternative
Wattpad, bekannte Plattform mit vielen originalen Werken (verschiedene Sprachen)
Foto: Thanks to RetroSupply for sharing their work on Unsplash.