Das Ich in Texten ist das Ich der Seele. Keiner kann diese Verbindung sehen, weil sie meinen Gedanken entspringt. Ebenso wie der Prozess des Schreibens. Doch nicht nur das Ich und dessen Charakter entspringt meinen Vorstellungen. Was diesem Ich widerfährt und wie sich der Handlungsstrang im Zusammenspiel von Umwelt und anderen Figuren entwickelt, ist diesen ebenfalls entnommen.
Also zwangsweise meinem Ich? Ich denke schon!
Doch bei alledem variiert die Stärke, inwieweit mein reales Ich tatsächlich Einfluss nimmt. Denn zugleich sind es Fremdinformationen und Randnotizen, die das wirkliche Ich beim Schreiben projiziert, aber nicht weiterverarbeitet. Beispielsweise in Alltagssituationen oder bei schlichter Recherche.
Wenn ich wiederum spreche, bin das Ich, die Wahrheit sagend, oder Ich, sie verschleiernd. Beides geschieht zwar mit unterschiedlichen Intentionen, bleibt aber immer noch mein eigenes Selbst und meine Überzeugung, vielleicht auch meine Leichtfertigkeit oder mein Trotz, meine Mutmaßung oder mein Unwissen.
Was allerdings nicht heißt, dass mein reales Ich unbeeinflusst ist. Bildung, Erziehung und Umwelt sind externe Impressionen, die mich mehr oder weniger prägen und den Gestaltungshorizont meines Ichs bestimmen. Egal, wie sehr ich mich dagegen zu wehren versuche.
Da es meiner festen Überzeugung entspricht, ein Ich finde sich in jedem meiner Texte wieder – ganz gleich, wie abstrakt es ist –, habe ich mir eine meiner Parabeln herausgesucht und möchte sie nun auf Ambivalenz zum oder Einklang mit dem Ich überprüfen:
»Ideenarm
Ein alter Kauz wohnt in seiner Holzhütte am Waldrand und vergisst dabei, dass die Zeit vergeht. Monate und Jahre schreibt er seine Ideen in kleine Büchlein und ordnet sie sorgfältig in Ordnern. Er stolziert wie ein König zwischen ihnen umher, putzt das eine Regal, nimmt eine Notiz aus dem anderen heraus, um sie zu ergänzen, und setzt sich abends erschöpft wieder in den Sessel vor den Kamin, der noch nie gebrannt hat, und überlegt erneut. Bis oben hin gefüllt ist die kleine Hütte mit Papierstapeln.
Sie quetschen sich unter der Decke und spannen sich in einem Bogen auf dem Schreibtisch des alten Mannes auf. Nur für das Tintenfass und seine Schreibfeder ist noch etwas Platz.
Wenn er eine neue Idee hat, dann lässt er seine ungewöhnlich flinken Finger walten und zieht schnell ein unbeschriebenes Blatt aus dem Stapel heraus. Erst wenn es beschrieben ist, landet es in einem vor Licht schützenden Ledereinband.
Der Wald um ihn herum wird größer und kleiner. Die Winter vergehen und Sommer ziehen vorüber wie Wolkenfetzen. Es vergeht eine kleine Ewigkeit. Dann steht der Mann plötzlich auf und schlurft nach draußen.
Er atmet tief. Wie ein Neugeborenes saugt er die frische Luft in sich hinein. Dann dreht er sich um, kramt eine Streichholzschachtel hervor und zündet ein Holz an.
„Es sind zu viele“, murmelt er halblaut, als wolle er sich erklären, während er die lila-rote Flamme mit glasigen Augen verfolgt. Dann schnippt er das Streichholz gekonnt durch die Tür auf den gierigen Papierhaufen. Es knistert, während er um die Hütte herumläuft und den Wald betritt.«
Aus meinem Ärmel schütteln sich Ideen wie Früchte von Apfelbäumen auf die zahlreichen Blätter am Boden. Doch ich bleibe stets wie der alte Kauz ideenarm, reichen sie nicht von da an bis in die Welt hinaus. Meine Kunst lebt durch die Reaktion, die Einschätzung und die Gefühle. Mein Ich kann sich verausgaben bis zum äußersten Erschöpfungsgrad, bis die Pergamente unter den Balken ihren letzten Platz finden oder mein Kopf platzt vor der Flut an Selbstgesprächen, die mir gleichsam immer gleichgültiger werden.
Was auf den ersten Blick wie eine Parabel in Kafka-Hommage erscheint, ist wohl der persönliche Zwiespalt meines Selbst in einer Zeit, in der Ideen von Handlung, Figuren, Zeit und Raum nur mir gehörten. Ich wusste nicht, wohin damit. Ich wusste nicht, mich zu befreien. Wusste nur, ich war allein damit – gefühlt auch immer dies zu sein.
Das Ende ist: die Wahl der Qual. Ein Weg, vielleicht falsch, doch hinaus aus dem Selbst. Das Ich kann auch kreisen, sich ewig verspeisen, und nicht mehr die Welt erleben. Denn für mein Schreiben ist sie essenziell. Sie gibt mir Halt, bringt mich zurück. Sie kann mir erzählen, was da draußen passiert und Ideen erfrischen – bereits in mir fast verwirkt. Nur Ausflüchte, das Ich verschwimmt, und badet tief im Sumpf, der das Ich vom Ich zertrennt.
Mein Text ist vielleicht nur eine Warnung – an mich. Wenn es zu viel wird, kann es geschehen, dass nichts mehr wirklich bleibt. Wenn niemand von etwas weiß, ist es auch nichts wert. Aber nein, ist es nicht das Handwerk, was zählt? Damit das Ich sich verausgabt und sprudelt und fließt? Doch ein Fluss braucht ein Meer, in das er sich ergießen kann. Gestautes ist nichts wert, egal wie sehr die Energie sprudelt. Sie lässt nichts ergrünen und bringt nicht zum Stillen den Durst nach Gefühlen, die meinem Willen entspringen. Denn sie sind nicht allzu tief versteckt, sondern schwimmen im Strom, entlang im Hier und Jetzt.
Und obwohl die Parabel ein Ich reflektiert, das sich Tag und Jahr nur in Ideen verliert, finde ich das eigene Selbst nicht hinter dem Wald unter Gräsern und Felsen, sondern gleich in den Zeilen, gar nicht weit versteckt. Bin ein Kauz, der das Beharren mehr als Selbstachtung schätzt.
Autor: Valentin Richter studiert Kreatives Schreiben und Texten in Berlin an der SOPA (Berlin School of Popular Arts).
Titelbild from @Elijah O`Donnell by @Pexels