Lebensfaden

Gut möglich, dass er Knicke und Risse aufweist. An manchen Ecken klafft er zerschlissen, franst aus und bröckelt, ist trocken wie Staub, hart wie Stein oder feucht und verschlammt. 

Mal knotet er sich, läuft in Schlaufen oder ändert seinen Pfad. Mal plustert, mal schlaucht er. 

Vergoldet, verrostet, eingefärbt und grau. Schnurgerade, krumm und schief. 

Mal zieht er fest, ist stramm, mal hängt er durch, schleicht hoffnungslos. Er windet und dreht sich ein, verliert den Faden …

Wer denkt, das Leben sei ein Netz aus tausend Fäden, tausend Möglichkeiten – verworren und unberechenbar, man selbst fast gänzlich ohne Einfluss – hat recht. 

Erst ganz am Ende kann man zurückschauen, die Schere in die Hand nehmen und den Faden des Lebens seinem Verlauf entlang herausschneiden.
Dann ist er letztlich nur noch ein langer Strick Geschichtsstoff. Vorher war das ganze Netz ein potenzieller Teil davon. Verdichtet, wirr, laut und dick. Ein Knäuel aus bunter Zukunft, an dem das Leben verspielt wie eine Katze zupft. 

Erst am Ende weiß man, wie abgespeckt die Wirklichkeit ist. Was die Zukunft bereit hielt oder hielte, ist vergessen, denn das Knäuel bleibt aufgerollt. Alle Kapitel sind verlesen. Unwissenheit bestimmt das Sein.

Autor: Valentin Richter studiert Kreatives Schreiben und Texten an der AIM (School of Arts, Information and Media).

Beitragsbild von Juditha Lehmkuhl

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