Distanz

von Katrin Girgensohn

Es hat keinen Sinn es zu erklären. Sie werden es nicht verstehen.

Manchmal sehe ich wie im Traum meinen Coronakrisentagesablauf vor mir. Er hat sich eingebrannt in mein Hirn. Es heißt, dass man Abläufe, die man immer und immer und immer wiederholt hat, nicht mehr vergisst. Fahrradfahren, schwimmen, Zigaretten drehen, schreiben. Diese Abläufe, die man realisiert, ohne darüber nachzudenken.

Jeden Morgen um sieben piepte der Wecker. Ich konnte noch eine halbe Stunde liegen, weil der Weg zur Arbeit wegfiel. So blieb mir genug Zeit, mich davon zu überzeugen, dass die Viren mich nicht umbringen werden. Dass der Ausgang der Geschichte mich nicht unglücklich machen wird. Es wird sich gelohnt haben, wenn das alles vorbei ist, sagte ich mir und konnte mich gegen halb acht aus dem Bett locken, indem ich mir einen Smoothie versprach.

Blitzartig zermalmten die Messer das tiefgekühlte Obst. Manchmal war es warm draußen. Vom Hof wehte ein Lüftchen herüber und die Vögel gaben ein Konzert. Ich schrieb meine Morgenseiten, drei an der Zahl, und konnte es nicht glauben, wenn es schon wieder an der Zeit war, die Tintenpatronen zu wechseln.

Um 9 Uhr war immer das erste Meeting. Die Gesichter, die aus dem Bildschirm heraussprachen, waren seltsam ausgeleuchtet. Sie wünschten einen guten Morgen, mit quäkigem Ton – Folge der Überlastung des Internets. Wir verhandelten geduldig die anstehenden Aufgaben und schalteten unsere Mikrophone aus, wenn wir hüstelten und schnaubten. Die Gesichter auf dem Bildschirm ähnelten meinen Kolleginnen so sehr, wie es Videoübertragungen nur können.

Den Rest des Tages setzte ich mich an die Bearbeitung der Aufgaben, wie schon in den Tagen zuvor, den Wochen zuvor, schließlich den Monaten zuvor. Ich redete nicht, blieb da, hörte dem Strom der digitalen Daten zu. Ich trug immer saubere Kleidung, das war ein psychologischer Trick, der uns in den Tipps für das Homeoffice mitgegeben worden war. Ich war nicht die einzige, die in jenen Tagen an solche Sachen glaubte. Um 18 Uhr machten wir Sport vor dem Bildschirm, um 19 Uhr klatschten wir am offenen Fenster für die Heldinnen und Helden, die sich in der analogen Welt dem Kampf mit den Viren stellten. Dann begann das digitale Kulturprogramm.

Es hat keinen Sinn, es zu erklären. Sie werden es nicht verstehen. In den Jahren danach lebte in meinem Kopf ein nicht enthülltes Geheimnis: Ich sehnte mich zurück nach jenen Tagen. Sehnte mich nach der tröstlichen Geborgenheit des immer gleichen Rhythmus und der Sicherheit meiner eigenen vier Wände. Ich sehnte mich nach der Gewissheit, dass niemand hereinplatzen würde und nach dem Abstand, den alle hielten, wenn ich doch mal einkaufen gehen musste. Ich sehnte mich nach den ernst gemeinten Fragen zum Befinden in jeder einzelnen E-Mail. Ich sehnte mich nach dem abendlichen Applaus und nach dem Lob der Bundeskanzlerin. Ich sehnte mich nach den Solidaritätsbekundungen, den Spendenaktionen und den Sicherheitsnetzen, die die Politik nicht nur versprach, sondern auch umzusetzen schien.

Du bist anders als die Leute um dich herum. Und es ist nur eine Frage der Zeit, bis alle es merken. All die Jahre danach war ich überzeugt davon, dass ich die einzige war, die das Ende der Krise noch immer betrauerte.

Bis ich den Kahlkopf kennenlernte. Er hatte ein charismatisches Gesicht, kluge Augen und er verströmte einen angenehmen Duft nach Desinfektionsmittel. Arzthelfer war er, in der Praxis meiner Hausärztin. Wir trafen uns zufällig an dem Nachmittag, nachdem er mir für den obligatorischen jährlichen Zwangstest Blut abgenommen hatte. Er kam an meinen Stehtisch in unserer Bäckerei und trank den Kaffee genauso höllisch süß wie ich. „Es wird wieder nicht regnen“, sagte er und ich stimmte ihm zu und schüttelte abweisend den Zuckerstreuer, als hätte ich so die Unbeholfenheit abschütteln können, die mich in der Nähe von anderen Menschen befällt.

Er lud mich trotzdem auf einen Spaziergang ein. Wir schlenderten im Abstand von 1,5 Metern durch den Park und er beobachtete unverhohlen, wie ich beim Anblick der Picknickgruppen auf der Wiese den Kopf schüttelte. „Ich kenne deine Sehnsucht“, sagte er, „Und ich teile sie.“

Es hat keinen Sinn, es zu erklären. Sie werden es nicht verstehen. Aber es gibt sie noch, die gesetzlichen Regelungen zu Distanzeheschließungen. Schon lange hat sich niemand mehr auf sie berufen. Wir werden Ihnen unsere Fernbeziehung nicht erklären. Sie werden es nicht verstehen.

(mit Samplen aus Marçal Aquino: “Flieh und nimm die Dame mit”, aus dem bras. von Kurt Scharf)

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