Das ist mal ein Rot

Ihre Beziehung begann und endete mit Harndrang. Sandra lernte ihn auf einem Festival kennen. Der komplizierten Toilettensituation geschuldet, pinkelte er in einen Busch. Neben ihn stellte sich Sandra und pinkelte in denselben Busch. Zunächst nahm er sie nicht wahr. Denn er stand so sehr nicht auf Männer, dass er seine Freunde nur Kollegen nannte und hinter jede Umarmung ein halbironisches, halbängstliches aber no homo stellte. Man hätte auch auf die Idee kommen können, er habe etwas gegen Schwule. Nun ja. Er stand also dort, und als er fertig war, alles wieder gerichtet hatte und wegtreten wollte, streifte sein Blick Sandra, die dastand in heruntergelassenen Shorts, einem Top, das auch ein BH hätte sein können und sich einen Papiertrichter zwischen die Beine hielt. Als sie fertig war, starrte er sie noch immer an. 

„Ich bin Sandra“, sagte sie, in der einen Hand den nassen Papiertrichter. 

Was für eine Frau, dachte er. 

Dann ging alles ganz schnell. Also: Was heißt schon schnell? Hinter einer Mauer jedenfalls fand sein Geschlechtsorgan irgendwann den Weg in ihres. Sandra spürte nicht viel, aber was sollte man schon erwarten von Sex im Stehen auf einer Wiese mit einem feuchten Papiertrichter in der Hand, außerdem hatte sie viel getrunken und Alkohol betäubte. 

Außer Atem lehnten die beiden danach an der Mauer, er ausgelaugt vom Orgasmus, sie überanstrengt von der unbequemen, Muskelkraft erfordernden Sexstellung. Er drehte seinen Kopf zu ihr. „Du bist so – so natürlich.“ 

Das freute Sandra. Natürlich, wer hätte sich darüber auch nicht gefreut? Sie zog einen Filzstift aus ihrer Hosentasche (wozu sie einen Filzstift in ihrer Hosentasche hatte, ob vielleicht genau dafür und wie oft sie ihn an diesem Abend schon verwendet hatte – danach fragte er nicht) und notierte ihre Handynummer auf seinem Arm. Er keuchte immer noch vor sich hin und als sie sich von der Mauer abstieß und verschwand, sah er ihr mit offenem Mund nach.

Fünf Tage nach diesem Ereignis gingen sie ins Kino. Sandra hatte sich geschminkt und einen neuen roten Lippenstift ausprobiert. Er wartete vor dem Kino auf sie. Als sie ihn entdeckt hatte und auf ihn zukam, zog er die Augenbrauen hoch. „Oha. Das ist mal ein Rot!“ 

Verunsichert lächelte Sandra und sie gingen hinein. Er kaufte Karten für die letzte Reihe. Sandra sagte, sie müsse noch einmal aufs Klo. Vor dem Spiegel über dem Waschbecken entfernte sie den Lippenstift. Erst mit Wasser, dann mit viel Kraft und Aggressionen (er war wasserfest) und schließlich mit dem Make-up-Entferner, den ihr ein anderes Mädchen zögernd entgegenstreckte. 

Als Sandra die Toilette wieder verließ, lächelte er sie das erste Mal an diesem Abend an. Sie schämte sich dafür, ganz offensichtlich um seinetwillen den Lippenstift abgewaschen zu haben, lehnte sich also schelmisch grinsend zu seinem Ohr hinüber und flüsterte, er sei nicht kussfest gewesen. Wegen letzter Reihe und so. 

Als sie ein paar Stunden später nackt und verschwitzt in seinem Bett lagen, er ausgelaugt vom Orgasmus, sie überanstrengt von ihren Versuchen, an irgendetwas Heißes zu denken, um auch zu kommen (Versuch fehlgeschlagen), sagte er, es sei wohl eine gute Idee gewesen, den Lippenstift abzuwaschen.

Arbeitsstress zufolge – er war Banker – vergingen zwei Wochen, bis sie sich wiedersahen. Sie waren in einem Café verabredet. Den Lippenstift hatte Sandra weggelassen und nur den Rest geschminkt. Zur Begrüßung küsste er sie auf den Mund und flüsterte ihr etwas ins Ohr, von dem sie den Hintergrundgeräuschen geschuldet nicht alles verstand, was aber die Worte „Natürliche Schönheit“ beinhaltete. Selig lächelnd bestellte sie kurz darauf einen Latte Macchiato. 

Als sie ein paar Stunden später nackt und verschwitzt in seinem Bett lagen, er ausgelaugt vom Orgasmus, sie überanstrengt von ihren Bemühungen, ihn zum Höhepunkt zu bringen, sagte er, das sei zwar viel zu früh, aber er glaubte, er liebe sie. 

Erneut vergingen ein paar Wochen, bis sie sich wiedersahen, diesmal Sandras Unistress geschuldet. Er wolle sie unbedingt sehen, schrieb er ihr. Sie habe aber nicht viel Zeit. Das sei ihm egal.

Sie trafen sich im selben Café wie letztes Mal. Sie trug, was sie beim Festival getragen hatte, um ihn zu überraschen. Und weil es ihr leidtat, dass sie so lange keine Zeit für ihn gehabt hatte. Als er seine Hand unter dem Tisch auf ihren Oberschenkel legte, stockte er. Ihr Bein war übersät mit kurzen Stoppeln. Sie fühle sich ja an wie ein Bär, meinte er. Sandra trank ihren Milchkaffee aus, sagte, sie müsse jetzt leider wieder an ihren Schreibtisch und er hielt sie nicht auf. Noch am selben Abend rasierte sie sich. 

Von da an nahm ihre Beziehung Fahrt auf. Sie sahen sich alle paar Tage und ihre Treffen endeten in seinem Bett. Inzwischen dachte sie während des Geschlechtsakts an den Sex mit einer Ex-Freundin und manchmal kam sie sogar. Er machte ihr weiterhin Komplimente für ihre Natürlichkeit, sie zog gar nicht erst in Erwägung, ihre Intimbehaarung wachsen zu lassen; eine perfekt aufeinander abgestimmte Symbiose.

In der Nacht, in der Sandra ihre Bachelorarbeit abgab, kam er sie noch besuchen. Sie war in letzter Minute fertig geworden. Als er an der Tür klingelte und sie ihm öffnete, zog er besorgt die Augenbrauen zusammen. Ob sie krank sei?

Ein wenig, log Sandra. Ob sie noch raus gehen wollten? In den Park, frische Luft schnappen. Er stimmte zu, sie zog sich an und sie gingen raus. Laternen leuchteten den Park aus, aber nicht so gut, als dass man in deren Licht die Feinheiten ihres ungeschminkten Gesichts hätte erkennen können. Irgendwann kam ihnen eine Gruppe Jugendlicher entgegen. Die Hand des einen Mädchens lag auf dem Po eines anderen Mädchens.

Sandra nickte ihnen lächelnd zu. Ihr Banker spuckte vor dem Pärchen auf den Boden. „Ekelhaft“, zischte er. „Das! Gegen die Natur. Schämt ihr euch denn nicht?“ 

Sandra wollte seine Hand loslassen, doch er klammerte sich daran fest. Man hätte beinahe auf den Gedanken kommen können, er wäre doch nicht so mutig, wie er meinte zu sein. 

Das lesbische Pärchen ging weiter. Ausflippen taten dessen Freunde.

Sandra zog an ihrer Hand und konnte sie schließlich aus der des Bankers befreien. Dann haute ein Mädchen ihm auch schon eine rein. Blut lief aus seiner Nase. „Oha, das ist mal ein Rot“, sagte das Mädchen, schlug ein zweites Mal zu und die Gruppe Jugendlicher setzte sich in Bewegung, als sei nichts Nennenswertes geschehen. 

Der Banker taumelte und fiel zu Boden. Rücklings lag er da. Sandra blickte auf ihn hinab. „Du willst es natürlich? Hier hast du dein natürlich“, sagte sie, zerrte sich die Hose runter, hockte sich über ihn und pisste ihm ins Gesicht.

Autorin: Juditha Lehmkuhl studiert Kreatives Schreiben und Texten an der SOPA (Berlin School of Popular Arts).

Titelbild von Tünde auf Pixabay

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