JAHR

Von Yo-Pa‘ Neumann

Es ist Januar. Mein Atem lässt kurzlebige, kleine Wolken aufsteigen. Wattebauschweiße Mützen zieren die Flora des Stadtparks.
Du hauchst in deine Hände, in der vagen Hoffnung sie zu wärmen. Nebel umspielt deine fröstelnden Finger und wirbelnde Wolkenwelten verblassen innerhalb eines Augenblicks.
Erfolglos vergräbst du die Finger tief in der Manteltasche. Ich muss schmunzeln. Du hast eigentlich immer kalte Hände.
Du.

Ein junger Mann sitzt auf einer Party. Ein voller Raum, halbleere Gläser, die Scheiben beschlagen. Davor schneit es.
Das Weinglas in seiner Hand ist nicht das erste. Das Gespräch nicht das letzte. Die Outfits waren schonmal besser, aber das mag am Motto liegen.
Immer wieder riskiert er Blicke. Quer durch den Raum kommen welche zurück. Manche davon knistern.
Einige Stunden später fragt er sich, warum er noch nicht gegangen ist. Die wenigen Verbliebenen hocken in einem engen Kreis zusammen, ihre Gesichter der Farbe des Weins angenähert.
Blicke wandern schüchtern reihum. Ein Lächeln, und dann noch eins. Ein Kreis, eine Flasche und viele Dummheiten, die Folgen haben oder nicht.
Nachdem sogar der Gastgeber ins Bett gegangen ist, sitzen zwei Gäste noch immer, mit fast leeren Gläsern, urplötzlich vertraut, in der Küche auf dem Boden. Sie halten Hände, weil ihre ganz kalt und seine ganz warm sind.
Ein Kaffee oder zwei. Irgendwann? Warum nicht.
Hallo.

In einem kleinen Café in einer großen Stadt am Fensterplatz. Vor ihm auf dem Tisch eine unangerührte, aufwendig zubereitete Kaffeespezialität.
Normalerweise trinkt er viel Kaffee. Ständig nebenbei, von morgens bis abends, schon irgendwie reflexartig, zumindest so lange, bis er sich das erste Bier aufmacht.
Aber jetzt gerade beachtet er das Porzellan vor sich überhaupt nicht, sondern spielt nervös an seinen zerkauten Fingernägeln herum.
Er ist geschlagene 45 Minuten zu früh. Aber wäre er später losgefahren, hätte irgendwas mit irgendeiner Bahn sein können.
Irgendein Ersatzverkehr oder Ausfall oder sonstiges Ereignis, sowas gibt es ja immer wieder, und Zuspätkommen macht einfach keinen guten Eindruck.
Wenn man zu früh ist, dann ist man auf der sicheren Seite. So ein bisschen Zeit kriegt man schon totgeschlagen. Und hier drinnen ist es ja warm.
Ein Gesicht vor dem Fenster. Aufgeregtes Winken. Behandschuhte Hände.
Zukunft.

Die eigenen vier Wände sind warm. Geborgen. Selbst zu dem gemacht was man sich wünscht. Zwei Menschen, vier Wände, unendliche viele Wünsche und Ideen. Ein Ikea-Katalog.
Ein Hund, ein Fernseher, eine Couch.
Die Küche, viele Schubladen, ein eigenes Gewürzregal. Selbst gebaut.
Ein Zimmer, nur zum Schlafen, mit Vorhängen, die den ganzen Raum verdunkeln.
Ein Flur, der warm willkommen heißt.
Zwei Schlüssel. Eine Tür.
Ein: „Bist du sicher?“
Zwei: „Ja!“
Verschlungene Hände unter der Decke auf dem Sofa am späten Nachmittag.
Willkommen.

Zwischen weißen Fingerknöcheln rinnt ein heißes, spärliches Rinnsal hervor. Rote Tropfen auf Teppich. Eine Faust zwischen Scherben, die nach und nach fallen.
Ein Gesicht schaut in die eingerahmten Überreste. Viele Gesichter schauen zurück.
Es gibt gesunde Ventile oder Reflexe.
Langsamer, tiefer Atem.
Leere.
Zusammen leben heißt auch zusammen leiden.
Zögern.
Auf der Zunge der Geschmack von Adrenalin.
Schauer im Rücken.
Eine kalte Hand auf warmen Nacken.
Kalt.
Gemüt, das gegen Kälte pulsiert.
Aber kapituliert.
Danke.

Es ist Januar. Dein Atem zeichnet auch wohlig wallende Wogen in der Luft.
Wir spazieren durch den Park.
Rituale tun manchmal ganz gut.
Deine Zähne klappern.
Ich nehme deine Hände, ziehe sie in meine Manteltaschen.
Dir wird warm, mir kalt.
Wir lächeln.

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