Prosanova 2023 – Eine Reihe merkwürdiger Ereignisse

Im Sommer 2023 haben die im Wintersemester 2021/2022 gestarteten Studierenden des B.A. Kreatives Schreiben und Texten an der SOPA das Hildesheimer Literaturfestival Prosanova besucht. Auf ihrem Blog berichten sie von ihren Eindrücken.

Freitag, 23.06.2023

13:00 Uhr
Es schüttet. 25 Minuten Fußweg und ein halber Schirm spielen um meinen Trockenheitsgrad. Juryauswertung: Zusammen sind sie unschlagbar (und meine gesamte rechte Hälfte in Wasser getränkt). 

13:02 Uhr
Zwei Meter vor mir lockt der rettende Eingang zu der umfunktionierten Grundschule und ich stehe etwas zu reglos in einer 10 cm tiefen Pfütze. Keine Ahnung, wie ich hier reingeraten bin. Wo sind die Teva-Sandalen, wenn man sie braucht? Papa wäre das nicht passiert.
Ein flüchtiger Blick auf meine Sportschuhe, dann eine Entscheidung. 
Ich schreite erhobenen Hauptes durch die neue Teichanlage des Schulhofs und wringe auf der Eingangstreppe souverän meine Socken aus, kurz bevor mir ein junger Typ das Festivalbändchen um mein Handgelenk wickelt. Erster Eindruck kann ich.

13:30 Uhr
Die erste Lesung und ich habe ab Minute Drei angefangen, mir in den Arm zu zwicken, um wach zu bleiben. Ich schätze, die vier Stunden Schlaf und der Sprint zum ICE um 6:20 Uhr wollen mir was sagen. Ich ignoriere sie. 

14:50 Uhr
Frische Luft schnappen.
Jemand hat sich ein Herz genommen und im Gulli rumgestochert. Meine Pfütze ist weg. Schade, ich hätte gerne noch ein paar Gleichgesinnte beim Plantschen beobachtet. Wir hätten so gut connecten können. Über das Gefühl von nassen Füßen in nassen Socken in nassen Schuhen zum Beispiel. 

15:00 Uhr – Literaturmeditation 
Wusste ich, dass ich einschlafen würde? Ja. 
Wusste ich, dass mich statt einer wohltuenden Shavazana-Reise zu meiner inneren Mitte ein Ausflug in die Tiefen des Patriarchats erwarten würde? Nein.
Ich hätte mir keine bessere Gutenachtgeschichte vorstellen können. Wenigstens hab ich davon nicht schlecht geträumt. Gesabbert allerdings schon. 

16 Uhr irgendwas
Alle haben Hunger – und ich überflüssig viele Unverträglichkeiten. 
Vielleicht eine Falafel mit Salat? 
Gespräch mit dem Falafel-Menschen:
Entschuldigung? Ist in der Falafel irgendeine Art von Mehl? Ich vertrage kein Gluten. 
Ja, aber nur ganz wenig! 
Ah, okay, ja, wenig ist für mich leider zu viel. 
Sind Sie Laktose? 
(Ich bin nicht sicher, wie ich diese Frage beantworten soll.)
Dann könnten Sie vielleicht eine Halloumi-Rolle? 
(Und auf einmal ist es tragisch unangenehm, vegan zu sein.)
Oh. Dann eine Salat … Rolle?
Naja, also das wäre dann eine Salat-Rolle ohne Rolle.
[Stille.]
Ich grinse schon seit Beginn des Gesprächs. Jetzt grinst auch mein Gegenüber. 
Ich halte es noch ein bisschen aus, dann geh ich weinen. 
5 Minuten Fußweg zum Edeka. 
Einen Apfel und eine Packung Taschentücher, bitte. 

16:45 Uhr
Wer hat sich eigentlich die Titel für diese Räumlichkeiten ausgedacht? 
Das Labor ist eine komfortable Kissen-Oase, die Dunkelkammer hell und die Aula liegt im 1. Stock. Außerdem sind hier deutlich zu viele schöne Menschen.
Was soll das. 

17:00 Uhr
Ich will zum Traumatelefon – das klingt nach Spaß. 

17:04 Uhr
Auf der Suche nach ebenjenem Trauma. Ich meine Telefon. 
Gespräch mit einer Person vom Prosanova-Team:
Wo ist das Zwischengeschoss?
Es gibt ein Zwischengeschoss?
[Ungläubige Pause auf beiden Seiten.]
Ich meine, wenn’s eins gibt, dann müsstet ihr eigentlich daran vorbeikommen, wenn ihr die Treppe hochgeht, oder? Es gibt ja nur eine. 
[Noch eine Pause, etwas zu lang.]
Darauf sind wir nicht gekommen. Wir biegen um die Ecke Richtung Treppe. Sie hatte recht.

Eine Schlange bis zur untersten Stufe.
Gemurmelte Worte eines sich Vorbeiquetschenden: Wollen die alle zum Traumatelefon? 
Ja, ja, das wollen wir.
Check mal deine Privilegien.

Die Wartezeit ist lang genug für erste Zweifel.
Man geht da doch nicht etwa einzeln rein, oder? 
Doch, doch.
Und dann? 
Dann telefoniert man mit Julia Friese. Glaube ich. 
Ah.
Ich hasse telefonieren. Und wer ist Julia Friese? 
Ich werde ganz bestimmt nicht fragen. Da könnte ich auch gleich anfangen zu strippen. Ich würde dem Ganzen den Titel geben: „Guckt mal, unter der Fassade meiner Studiengangsbeschreibung habe ich erstaunlich wenig Ahnung von der Literaturszene, übrigens kenne ich keinen einzigen der Namen im Programmheft und habe deswegen nicht mal die Chance auf fomo – yay“.
Nein, ich denke, ich behalte meinen Scheinintellekt noch ein bisschen an. 
Die Schlange schleicht sich die Treppe hoch. 
Jede Person, die das sogenannte Zwischengeschoss betritt, geht lachend hinein und kommt schweigend mit ernstem Gesicht wieder heraus. 
Ich frage mich, ob das Traumatelefon weniger Traumabewältigung bietet, sondern vielmehr Gratis-Traumata zum Mitnehmen. Manche haben wirklich einen Blick für Marktlücken. 
Mir bleiben noch 5 Menschen Zeit, mich umzuentscheiden. 
Oh, es ist so wahnsinnig verlockend. 

17:56 Uhr
Auch ich komme schweigend und mit ernstem Gesicht aus dem Zwischengeschoss.

22:34 Uhr – Live-Musik in der Aula
J: Ich hab gerade mega Bock auf Nudeln mit Pesto.
T: Boah, jaaaa! Die Decke sieht auch auf einmal total aus wie Parmesan.

Ein Bild, das Wand, Gebäude, Im Haus, Symmetrie enthält.

Automatisch generierte Beschreibung

23:10 Uhr
Hildesheim ist bekannt für seine üppigen Rosenbüsche. Ich stehe vor vier Plastikpalmen mit blinkenden Lichterketten. 

23:30 Uhr
Entgegen meinen Erwartungen sind meine Socken immer noch nass.
Warmnass.

00:19 Uhr – Sit-In im Dreibettzimmer
J: Und was sollte das eigentlich mit diesem mittelalten Mann auf dem Festival für junge Literatur? 
M: Ja, der sah auch ein bisschen älter aus als 55.
T: Ja. Eher 58.

Samstag, 24.06.2023

11:00 Uhr – Werkstatt
Lesbian Semiotics – Workshop
Ich habe wirklich keinerlei Vorstellungen, was hier passieren wird, aber die knappe Beschreibung klang legendär und ich bin neugierig. 

14:00 Uhr
Oooh, ich habe so viele Fragen. Ganz offenbar bin ich blutige Anfängerin. Oder einfach nicht lesbisch. 
Dazu fehlt es mir an Karabinern.

15:00 Uhr
Alle haben Hunger – und ich die Opferbereitschaft, entgegen meiner Lust das Einzige zu essen, das ich hier essen kann: 
Eine Pommes, bitte. [seufz] 
Der Strom ist kaputt.
Ich hätte gestern zwei Äpfel kaufen sollen. Aber Taschentücher hab ich noch. 

17:41 Uhr
Der Edeka — mein Freund und Helfer. 

Erschütternde Feststellung und wiederkehrender Gedanke
Unsere Ferienwohnung hat kein Salz. 

22:07 Uhr
Ich. Will. In. Die. Horizontale. 

22:09 Uhr 
Der Plastikliegestuhl ist ein Anfang. 
Der Plastikliegestuhl ist mein Ende. 

22:18 Uhr
Der Sekt tut sein Übriges und wir sind an dem Punkt, dass wir über Kindernamen sprechen. 
Vorschlag: Alle, die eine unsympathische Person mit dem genannten Namen kennen, halten verdammt noch mal den Sabbel. 

22:30 Uhr 
Kreatives Schreiben Studierende können nicht „Ich hab noch nie“ spielen, ohne jede Frage auf ihre verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten auszudiskutieren. 
Nachtrag: Mehr Alkohol macht es nicht besser. 

00:30 Uhr
Zeit, die „legendären Prosanova-Partys“ zu begutachten. Die Erwartungen sind hoch. 

01:08 Uhr
Die Erwartungen waren zu hoch.  
Der linke Flügel der Tafel im Klassenzimmer wird zum Fächer umfunktioniert. Das ist aber auch schon das einzig Legendäre hier. 

02:41 Uhr
War dieses Bett gestern auch schon so weich?

Sonntag, 25.06.2023

11:36 Uhr
Ich habe versucht, bei Rot über die Ampel zu gehen. Dreimal. Und jedes Mal wurde sie grün, sobald mein Fuß die Straße berührte. 
Hildesheim erstickt wirklich jede Rebellion. 

13:00 Uhr – Gespräch mit Julia Friese und Jennifer Becker im Klassenzimmer
Zu viele interessierte Leute in einem zu kleinen Raum bei deutlich zu geschlossenen Fenstern. Die ersten Programmhefte werden zu Fächern. Etwas krabbelt über meinen Rücken. Kein Tier – Schweißperlen. Vielleicht ein guter Moment, um nochmal auf das Strippen zurückzukommen? 
Immerhin weiß ich jetzt, wer Julia Friese ist. 

14:00 Uhr oder so
Odile Kennel?
Damn it – ich bin verliebt. 
In deine Sprache.
In dein Sprechen.
In dein Schreiben. 
In deine Gedanken. 
In deine Haltung. 
In dein Geschick. 
In deinen Witz.
In deine Tiefe.
Deine Leichtigkeit. 
Danke. 
[unbezahlte Werbung] 

16:36 Uhr
Ich wüsste wirklich nicht, worüber ich schreiben soll. Hier passiert nichts. Ich will nach Hause. Wann sind wir da? Mir ist warm. Ich hab Hunger. Mir ist langweilig. Ich bin müde. Ich, ich, ich – 

18:14 Uhr – Eisdiele „Elli‘s“
Wir hängen auf der Bank vor der Eisdiele. Fünf Leute, aber keine Kapazitäten mehr für Gespräche. Nur stilles Eisessen. Ein kurzer Energieschub, als auffällt, dass man die Löffel mitessen kann. Dann:
Es kann gerne jemand meinen Löffel essen. Ich würde den gerne abgeben. 

Ja, an diesem Punkt sind wir angekommen. 
Die Luft ist raus.
Raus aus der Gruppe.
Raus aus der Lunge. 
Raus aus der Festival-Blase.
Durchstochen von der Müdigkeitsnadel. Geformt aus zu wenig Schlaf und zu viel Input.

Kein Sauerstoff bei 33 Grad. 
Nur stehende Hitze und körpereigene Tröpfchenbewässerung. 

19:55 Uhr – Konzert in der Aula
Ein letztes Aufbäumen gegen die Müdigkeit zu den Cover-Klängen von Stevie Wonder. 

23:07 Uhr
Die Deutsche Bahn ist doch tatsächlich 11 Minuten früher als geplant in Berlin angekommen. Mir fehlen die Worte. 

00:22 Uhr
Hallo, liebes Bett. Wie bitte? Ja, ich habe dich auch vermisst. Jetzt wird alles gut. 
Denn here I am, baby – signed, sealed, delivered, I’m yours.

Autorin: Tabea Neu studiert Kreatives Schreiben und Texten an der Berlin School of Popular Arts.

Beitragsbild: Tabea Neu

Titelbild: BELLA triste – Zeitschrift für junge Literatur

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