Disput der Inneren Geschwisterkinder

voll nicht zugehört gerad und er so: kennst du das auch?
Anne hält Gea die Handynotiz vors Gesicht und Gea lacht. 
Anne verzieht derweil den Mund, antwortet mit „Mhh ja, verstehe“ auf das, was ihr Bruder ihr am Telefon erzählt, und lässt ihre Hand sachte über Geas Rücken wandern. 
Immer komme ich zu kurz, raunt das Schattenkind Anne zu.
Sie hat ihren Bruder lieb und so – natürlich hat sie das – aber er redet stundenlang nur über sich. Und außerdem: In ihrem Arm liegt ihre Freundin, wie bitte soll sie sich da konzentrieren können? 

„Und dann habe ich mich gefragt, ob das vielleicht so ein generelles Ding ist bei uns in der Familie, weißt du? Dass wir das eben so gelernt haben. Sich kleinzumachen und das mit den People Pleasing-Mechanismen. Das geht dir doch genauso, oder?“ Jannis nippt an der Kaffeetasse und streicht mit einem Finger über die Seite in seinem Notizbuch. Ich bin wertlos! Ich genüge nicht, schreit sein Inneres Kind. 
Jannis erlaubt sich ein Lächeln. Wie schön er diese Überlegungen notiert hat. Wenn er jetzt sterben sollte, würden alle sehen, wie genial er ist und dass sie ihn zu Lebzeiten völlig unterschätzt haben! 
Die halbe Nacht hatte er wachgelegen und nachgedacht und dann begonnen zu notieren – und Muster hatten sich ergeben. 
Er ist etwas Großem auf der Spur. Jannis‘ und Annes Familienvermächtnis, wenn man so will.

„Ja, doch schon“, antwortet Anne und starrt gebannt auf ihren Oberschenkel. Oder eher auf Geas Hand, die auf ihrem Oberschenkel liegt. 

„Echt?“ Jannis umkreist die Wörter Bei Anne auch? einige Male mit seinem schwarzen Kuli und rückt das Handy zurecht, das zwischen Schulter und Ohr klemmt. 

„Nicht so krass wie bei dir vielleicht, aber im Grunde …“ Anne hält ihr Mikro zu und drückt Gea einen Kuss auf die Lippen. Gea legt ihre Hand in Annes Nacken, zieht Annes Kopf zu sich und küsst sie zurück.  

„Wie äußert sich das denn bei dir, kannst du das vielleicht mal beschreiben? Weil – das ist glaube ich voll unterschiedlich bei uns.“ 

Anne löst sich von Gea und nimmt ihre Hand vom Mikro. „Boah, das ist jetzt schwierig, weiß ich auch nicht so genau.“ 

Enttäuscht lässt Jannis den Kuli sinken, der schon über seinem Notizbuch geschwebt hat, und klickt die Mine rein und raus. Immer komme ich zu kurz! Ich kann mich auf niemanden verlassen! Sein Schattenkind schnaubt wütend. „Aber irgendwas muss dir dazu doch einfallen, wenn du meinst, du kennst das auch. Was daran kennst du denn?“ 

Anne verdreht die Augen und wackelt mit dem Fuß. „Weiß nicht.“ Gea zieht die Augenbrauen hoch und flüstert: „Soll ich gehen?“, aber Anne greift nach ihrer Hand und schüttelt den Kopf, dabei hasst sie es, vor anderen Menschen zu telefonieren. Aber – ich werde nicht geliebt! Ich kann mich auf niemanden verlassen! Ich schaffe es nicht allein, zischt ihr Inneres Kind.

„Ich verstehe nicht, warum dir dazu jetzt nichts einfällt!“ Immer komme ich zu kurz! Keiner ist für mich da! Jannis‘ Fingernägel bohren sich in seine Handfläche, bis es wehtut. Ich darf nicht kritisieren! Ich darf nicht widersprechen! 

Krampfhaft versucht Anne zu rekapitulieren, was überhaupt die Frage war. „Kannst du nochmal erklären, was genau du jetzt meinst?“ 

„Ich sage zum Beispiel nie, wenn mich irgendwas stört. Oder wenn ich anderer Meinung bin. Stattdessen passe ich meine scheinbare Meinung an andere an. Das hat wohl was mit dem Urvertrauen zu tun. Ich hab da letztens was gelesen über Es, Ich und Über-Ich und so verinnerlichte Glaubenssätze, die sich bis ins Erwachsenenalter ziehen. Und wenn man dann die sogenannte Schutzstrategie der Harmoniebedürftigkeit anwendet, kann es so weit kommen, dass man nicht mal eine eigene Meinung hat, weil man sich tatsächlich immer nur anpasst.“ 
Jannis‘ Innerer Erwachsener meldet sich zaghaft, als er hört, dass über ihn geredet wird, aber Jannis nimmt ihn nicht dran. Ich bin wertlos! Das Schattenkind lacht stumm, weil Jannis lieber auf Es hört.

Ich bin wertlos! Ich werde nicht geliebt! Gekränkt stampft Annes Inneres Kind mit dem Fuß auf. „Ähm, also ich hab schon ne Meinung? Auch zu politischen Themen und so, da hab ich voll die krasse Meinung! Wieso sollte ich keine Meinung haben, wie scheiße wär das denn bitte?“ Anne ballt ihre Hand zu einer Faust und schlägt damit auf ihr Bein ein. Gea fängt die Faust auf und zieht mahnend die Augenbrauen hoch. Währenddessen erstickt Annes Schattenkind beinah an seinem Lachen und ihre Innere Erwachsene will sie auf gestern hinweisen, als sie und Gea Pizza gegessen haben, weil Anne meinte, es sei ihr egal, und wie sie während des Pizzaessens festgestellt hatte, eigentlich gar keine Lust auf Pizza zu haben. 

„Ich meinte das doch nicht negativ“, ich bin wertlos! Ich werde nicht geliebt! Ich darf nicht kritisieren, „das war nur eine Feststellung.“   

„Ja, schon klar, alles gut.“ Ich darf nicht kritisieren! Ich darf nicht widersprechen! „Ich hab gerade nicht so Zeit einfach, Gea ist hier, können wir ein anderes Mal telefonieren?“ Ich schaffe es nicht allein! 

Ich werde nicht geliebt! Ich bin wertlos! Ich komme zu kurz!
Der Kuli prallt über dem Esstisch an die Wand, als Jannis ihn quer durch die 1-Zimmer-Wohnung schleudert. Er zerspringt und rieselt als Schlachtfeld aus Feder, Mine und billigem Plastik auf das fleckige Holz. 
„Klar, alles gut. Ich muss eh noch ganz viel für die Uni machen.“ 

„Okay, super. Dann bis … dann mal?“ 

„Ja, bis dann.“

„Ciao!“

„Ja, tschüss.“  

Autorin: Juditha Lehmkuhl studiert Kreatives Schreiben und Texten an der SOPA (Berlin School of Popular Arts).

Beitragsbild von Kelly Sikkema auf Unsplash

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