Ein Beigeschmack von Eitelkeit : vom Schein

Die Autorin und Studentin des Studiengangs Kreatives Schreiben und Texten Jasmin Hielscher präsentiert den zweiten Teil ihres Textes Ein Beigeschmack von Eitelkeit – vom Schein

Bevor der Prolog beginnt  

Auf einer Wiese im Umland Berlins stand ein Baum, der dafür bekannt war, äußerst prächtige Birnen wachsen zu lassen. Jedes Jahr im Herbst wurden diese dann von Bauer Klaus geerntet. Klaus wartete immer bis zum letztmöglichen Zeitpunkt mit der Ernte seiner Birnen, da er getreu Darwins Prinzip ‚Survival of the fittest‘ nur die Birnen pflücken wollte, die es bis ganz zum Schluss schafften, sich mit ihrem gesamten Körpergewicht an den Ästen des Baumes festzuhalten. Nur diese Birnen waren seiner Meinung nach die Ernte und den Verzehr wert, denn sie sahen so aus, wie richtige Birnen eben aussehen sollten.

Bert gehörte zu dieser Sorte Birnen. Im Herbst 2020 wurde er gepflückt und nach Berlin gebracht. 

Wenige Jahre später und kurz davor

Berts Umzug war nun zwei Tage her. Er hatte es zwar nicht weit geschafft, aber immerhin vom Kollwitzmarktplatz in die Choriner Straße. Gerade durch die ersten Sonnenstrahlen geweckt, lag er nun zufrieden und wohl ausgeruht –denn er hat doch fast sieben Stunden geschlafen – in seinem Körbchen auf der alten Kommode in barocker Optik. Der Bast umschlang die dünne und grünbraun gefleckte Haut, die sich um seinen gesamten Körper spannte. Die feinen Verästelungen der Fasern gaben Bert ein wohliges Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit, nach beidem hatte er sich inständig gesehnt. Ihm gefiel auch die 140 cm hohe Kommode, auf der sein Korb stand, denn sie verlieh ihm ein wenig Gefühl von Heimat in diesen grauen novemberlichen Tagen. Sich viel höher zu befinden mochte er auch gar nicht, denn es nagte an ihm hier und da eine leichte Höhenangst, die ihm gerade in seiner Jugend immer wieder zugesetzt hatte. „Nach dem Hochmut kommt der Fall“, so hatte man es nämlich in seinen Kreisen zu den Obersten gesagt. Und am Ende waren sie alle gefallen. Vor diesem Fall hatte er sogar noch mehr Angst als vor der Höhe – oder aber es war die Höhe, aus der man erst fallen konnte – also hatte er doch eigentlich Angst vor ihr und nicht vor dem Fall. So oder so, Bert war glücklicherweise nie gefallen. Die große Höhe jedenfalls war ihm trotzdem immer noch unangenehm, weswegen er mit seiner Positionierung und den damit verbundenen Sicherheiten schon recht zufrieden war. Diese Zufriedenheit als Voraussetzung sowie auch der derzeitig allgemeine Zustand, den seine neue Bleibe in ihm bewirkte, ließen Bert ganz sorgenfrei und naiv werden. 

Er brauchte sich nicht mit der Bewältigung etwaiger Schwierigkeiten existenzieller Umstände beschäftigen, demzufolge brauchte er aber eindeutig eine neue Tätigkeit oder Beschäftigung, um sich die Zeit seines Daseins zu vertreiben.

Und weil er auch in diesem neuen inneren Zustand weder einen zu behebenden Mangel noch einen zu behebenden Überfluss feststellen konnte, schlussfolgerte er, dass die Beschäftigung mit sich selbst von seinem jetzigen Standpunkt aus konsequent zur Langeweile führen musste. Deshalb begann er sich nun zielsicher auf Äußerlichkeiten zu fokussieren, weswegen er sich gleich intensiv mit der unmittelbaren Umgebung auseinanderzusetze. Das Erste, was ihm diesbezüglich auffiel, war natürlich alles, was er von seinem behaglichen Nest aus betrachten konnte. Und das war einiges. Alles an Mobiliar und Inhalt war feinsäuberlich und detailliert aufeinander abgestimmt worden, sodass keinerlei Unstimmigkeiten innerhalb der Konstellation des Interieurs bestanden. 

Nachdem seine Blicke sich intensiv mit dieser Art von Schönheit beschäftigt hatten, brauchten sie neue Eindrücke, denn was Bert kannte, langweilte ihn. So wanderten seine Augen weiter im Raum umher, bis sie schließlich 180 Grad weiter auf etwas trafen, dass alles bisher Gesehene noch an Schönheit übertraf. Hätten Berts Augen Hunger gehabt, hätten sie sich daran mehr als sattgesehen. Aber in diesem Moment waren sie bereits gesättigt, ihnen musste nichts Weiteres einverleibt werden. Und trotzdem konnte er sich nicht mehr von dem Bild loslösen. Ob es die Proportionen oder die Komposition an sich waren, konnte Bert nicht genau sagen, aber in seinen Augen war alles miteinander so stimmig, wie es nur hätte sein können. Die glatte, gefleckte und makellose Haut, die Form, die von einer schlanken Zierlichkeit in eine wohlgeformte Rundung mündete, der schmale, feine Stiel, der seinen Kopf Richtung Himmel reckte, als wolle er direkt in die Wolken eintauchen. Diese Schönheit war so unbeschreiblich, dass Bert sie nicht in Worte hätte fassen können, so betrachtete er sich einfach schweigend weiter. 

Kurz danach

Bert spürte, dass etwas passiert war.

Es war Schmerz, den er fühlen musste. Schmerz, der einen nicht unerheblichen Verlust auszudrücken versuchte. Es war, als wäre ihm ein Teil seines Wesens soeben genommen worden. Hatte sich sein Blick gerade noch an der Oberflächlichkeit von sehenswürdigen Eindrücken erfreut, so sucht er nun Halt an der glatten, sich spiegelnden Oberfläche, die sich an die unverputzte Wand geschmiegt hatte. 

Alles war ganz schnell gegangen. Da war der Herr, der ihn in diesen Zustand gebracht hatte. Die Hand, die auf ihn zukam, nach ihm griff und ihn hoch in Richtung Mund hob. Das plötzliche, laute Klingeln des Telefons. Das Wieder-zurückgelegt-Werden. Das laute Knallen. All das passierte in einer Geschwindigkeit, in der Bert nur erleben, nicht aber reflektieren konnte. Prüfend und beunruhigt blickte er nun in den Spiegel. Aber was er sah, entsprach lediglich allem, was er bereits gesehen hatte. Er sah den grünbraun gemusterten Körper, den schmalen Hals und den wohlgeformten, dicklichen Hintern, in den er sich nur ein paar Stunden zuvor so unendlich verliebt hatte. Es hatte eine kurze Weile gebraucht, bis er verstand, dass er selbst durch diese Schönheit verkörpert wurde. Denn zunächst war er der Annahme gewesen, es müsse sich doch um ein außerirdisches oder mindestens exotisches Objekt handeln, da es alles, was sich sonst noch in dem Raum befand, an visuellem Reiz und Perfektion noch übertraf. Sich weiter penibel betrachtend, kam es ihm fast so vor, als wäre seine rechte Seite ein wenig schmaler geworden als die linke. Aber das war wohl nur Einbildung, eine optische Täuschung oder ein veränderter Lichteinfall. Eine andere Erklärung dafür fand Bert in diesem Moment nicht.

Wenige Tage später  

Der Herr, der Auslöser, war nicht mehr zurückgekehrt. Seit ein paar Sonnenaufgängen war Bert nun schon alleine gelassen worden. Kein tägliches Richten der Haare, kein kritischer, letzter Blick, bevor er das Zimmer wieder verließ.

Bert fühlte sich unwohler und schwächer denn je. Seitdem es geschehen war, hatte es einige Veränderungen gegeben. Die vorerst als Täuschung angenommene schmerzhafte Asymmetrie der beiden Körperhälften hatte sich als grausame Wirklichkeit herausgestellt. Zunächst hatte Bert sie nicht wahrhaben wollen, sie nicht akzeptieren können. Er wollte nicht einsehen, dass das Schönste, was er auf Erden erblickt hatte, sich nun mehr und mehr einem Makel ergab, der die Schönheit kontinuierlich verdrängte. 

Erst war es nur minimal gewesen, im Laufe der letzten Tage aber war die Veränderung größer und größer geworden.

Nicht nur die Symmetrie deformierte sich, auch eine braune Farbe, ähnlich dem Braun, mit dem seine Haut auch befleckt war, hatte sich aus der nun kleineren Hälfte herausgebildet und seinen Körper mehr und mehr für sich eingenommen. Zusätzlich breitete sich langsam, aber sicher das Gefühl in Bert aus, dass auf der anderen Seite des Spiegels noch viel Schlimmeres geschah, was er selbst aber nicht erkennen konnte, da es vermutlich ihn selbst betraf. 

Hier geht es zum ersten Teil!

Autorin: Jasmin Hielscher studiert Kreatives Schreiben und Texten in Berlin an der SOPA (Berlin School of Popular Arts)

Foto von @Jasmin Hielscher

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