MONSTER

Die Autorin und Studentin des Studiengangs Kreatives Schreiben und Texten Larissa A. Jank präsentiert ihren Kurzprosatext „MONSTER

„Denkst du, dass man Monster bekämpfen kann, ohne dabei selbst eines zu werden?“, fragte ich leise, während meine Finger mit der Metallkette an meinem linken Handgelenk herumspielten, die an dem Rahmen meines Bettes angekettet war. Die Kette war lang genug, um die wenigen Schritte zu dem Fenster neben meinem Bett gehen zu können, aber zu kurz, um die Tür zu meinem Zimmer oder den Stuhl erreichen zu können, auf welchem Luke nun mit neugierigem Blick saß.

„Ich verstehe nicht ganz, was du damit meinst, Diana“, Luke blickte von seinem Notizbuch auf und kräuselte auf diese vertraute Art seine Augenbrauen, die ich schon bei unserem ersten Treffen an ihm bemerkt hatte.

Ich fuhr durch meine zerzausten Haare und blickte für einige Sekunden auf meine vernarbten Hände, ehe ich sagte: „Du verdienst doch dein Geld damit, Verrückte wie mich den lieben langen Tag zu analysieren. Ist es also möglich, dass jemand wie ich grauenhafte Menschen wie meine Eltern bekämpfen kann, ohne dabei nicht selbst ein Monster wie sie zu werden?“

Unsere Blicke trafen sich auf der Distanz zwischen uns und ich konnte ein erregtes Zittern in jeder Zelle meines Körpers spüren. Er war genauso unschuldig, wie ich es für eine kurze Zeit war – bis sich mein Leben in einen Albtraum verwandelt hatte.

„Vergiss meine Frage. Die Tatsache, dass ich wie ein räudiger Straßenköter angekettet bin, ist mir Antwort genug“, sagte ich zischend und hob dabei meine linke Hand hoch, sodass die Metallkette rasselte.

„Was deine Eltern dir angetan haben, war furchtbar, Diana. Aber es rechtfertigt deine Tat trotzdem nicht. Was du mit ihnen gemacht hast.“

Ich stieß schnaubend die Luft aus und spürte das abgründige Lächeln, welches sich auf meinen Lippen ausbreitete, während ich auf die zerknitterte Bettdecke blickte, die auf meinen Beinen lag: „Denkst du, dass ich nicht wüsste, dass ich verrückt bin? Dass Blut an meinen Händen klebt und ich es nie wieder davon abwaschen kann? Aber ihr Tod war mein einziger Ausweg aus der Hölle, die mein Leben war.“
Ich hob wieder meinen Blick und sah erneut in das bekannte Gesicht des Mannes vor mir, bevor ich mit rauer Stimme weitersprach: „Aber wem erzähle ich das schon? Menschen wie du können sich hinter so viele Bücher wie sie wollen klemmen, werden sich aber niemals in jemanden wie mich hineinversetzen können. Eine, die ihr ganzes Leben wie das letzte Stück Dreck behandelt wurde; die nie etwas richtig machen konnte. Die ihren toten Eltern keine einzige Träne nachweinen wird.“

„Wieso hilfst du mir dann nicht, mich in dich hineinversetzen zu können?“ Zu meiner Verwunderung legte Luke sein sonst so behütetes Notizbuch auf den Boden unter seinen Stuhl und schenkte mir seine ungeteilte Aufmerksamkeit. “Ich weiß und hoffe, dass hinter dieser Maske von einem mörderischen Lächeln und wunderschönen irren Augen im Grunde ein weiches Herz steckt, das einfach nie richtig behandelt wurde. Also erzähl mir, was sie dir Schreckliches angetan haben, wodurch du zu solch einer grauenhaften Tat getrieben wurdest.“

Überrascht ließ ich meinen Blick auf Luke ruhen und studierte seine Gesichtszüge ganz genau – ob die Absicht hinter seinen Worten nur eine erbärmliche Lüge oder von wahrer Natur war. Ich war es einfach satt, zum Narren gehalten zu werden, wenn mir einer der vielen Ärzte hier versicherte, er wolle verstehen, was mich zu der Psychopathin gemacht hatte, die ich doch schon mein ganzes Leben war. Keiner dieser Bastarde von Ärzten hatte sein Wort gehalten, also hatte ich es in dem Jahr in dieser Irrenanstalt perfektioniert, auch nur die kleinste Lüge in der Mimik eines jeden Menschen zu erkennen. Und Lukes Absichten waren, wie ich feststellte, vollkommen ehrlich.

„Zunächst, Herr Doktor, verstecke ich mich nicht. So etwas Banales wie eine Maske existiert nicht, wenn Blutrot eines Tages erst deine Lieblingsfarbe ist“, ich lehnte mich gegen die eiskalte Steinmauer hinter mir und schloss meine Augen für einen kurzen Moment. „Ich habe mich damals so lebendig wie noch nie gefühlt.“

„Hast du damals das erste Mal jemanden oder etwas Lebendiges getötet?“

Ein hysterisches Lachen verließ meine Kehle, als ich den blonden Mann vor mir amüsiert anblickte: „Denkst du, ich wäre eine Satanistin, die heimlich in ihrem Zimmer Kaninchen und Katzen opfert, um ihren Blutdurst zu stillen? Nein, mein Lieber, es war das erste Mal, dass ich zwei Leben beendet und eines wieder von den Toten zurückgeholt habe.“

„Dein eigenes.“

„Er lernt schnell!“, rief ich erfreut aus und spürte, wie mein Lächeln noch breiter und wahnsinniger wurde. „Ja, meine Eltern haben mich an jenem Tag für tot erklärt, als sie sich dazu entschieden haben, meine psychischen Probleme für nichtig zu erklären und mich langsam und qualvoll an ihnen verenden zu lassen.“

„Sie sind niemals mit dir zu einem Arzt oder Psychiater gegangen?“

„Oh doch, einmal – nachdem ich einem Mädchen aus meiner Klasse die Zöpfe abgeschnitten hatte, weil sie einer herumstreunenden Katze am Schwanz gezogen hatte. Ich war damals so etwa sieben Jahre alt. Auf jeden Fall waren meine Eltern danach empört über mein Verhalten und schleppten mich noch am selben Tag zu einem Seelenklempner. Eigentlich war ich froh, endlich mit jemanden über diese wispernden Stimmen in meinem Kopf und all die anderen bedrückenden Dinge sprechen zu können, aber dieses Schwein war mehr an unserem Geld als an meinem Geisteszustand interessiert. Ich bekam irgendwelche x-beliebigen Pillen verschrieben und wurde wieder zurück nach Hause geschickt. In dieser Nacht bekam ich von den Pillen Fieberschübe, Schweißausbrüche und habe das erste Mal, seitdem ich kein kleines Mädchen mehr war, in mein Bett gemacht. Ich habe meinen Eltern davon erzählt und sie waren zu diesem Zeitpunkt der Meinung, dass ohne Pillen mit mir doch alles in Ordnung wäre – dass dieser Vorfall nur ein kleiner Ausrutscher gewesen wäre und ich mich in Zukunft verdammt nochmal wie ein normaler Mensch verhalten sollte.“

„Ich kann nur davon ausgehen, dass deine Psychose nicht besser wurde.“ Luke legte seinen linken Fuß auf seinem rechten Knie ab und erwartete mit Interesse meine Antwort.

„Ich möchte mein erbärmliches Dasein nicht mit mehr ausschmücken, als es das verdient hätte. An einem Punkt meines Lebens habe ich mich diesen Stimmen in meinem Kopf endlich hingegeben und wurde jeden Tag immer mehr von der Dunkelheit und ihren verführerischen Gedanken eingeschlossen. Irgendwann hast du keine Kraft mehr, von diesen Schatten davonzulaufen, sondern musst lernen, mit ihnen zu tanzen. Und eines Tages hat es dann dazu geführt, es jenen zwei Menschen heimzuzahlen, die das Monster in mir zum Vorschein gebracht haben.“ Eine Haarsträhne verirrte sich in mein Gesicht und ich legte meinen Kopf etwas schief, um Luke weiterhin ansehen zu können. „Weißt du eigentlich, dass ich nachts oft von dir träume?“

Sichtlich überrascht von diesem abrupten Themenwechsel blickte mir Luke in die Augen und richtete sich aus seiner entspannten Sitzposition auf: „Davon hast du noch nie erzählt.“

„Ich wollte wenigstens ein kleines, schönes Geheimnis für mich haben. Auch ein Monster wie ich darf träumen.“

„Du weißt, dass du über solche Dinge mit mir sprechen sollst, Diana. Es darf keine emotionale Verbindung zwischen Patienten wie dir und behandelnden Ärzten wie mir entstehen – das weißt du doch.“

„Denkst du nicht, dass es dafür ein wenig zu spät für uns ist?“

Das erste Mal seit meiner Ankunft in dieser Irrenanstalt erlebte ich es, dass Luke für einige Sekunden sprachlos vor mir saß. Ich konnte ein verschmitztes Grinsen auf meinen Lippen nicht unterdrücken, während ich ihn beobachtete, wie er sich schnell wieder zu fangen versuchte und gekonnt meine Aussage zu ignorieren schien: „Wovon … Wovon hast du denn geträumt?“

„Ach, es ist eigentlich immer dasselbe. Ein Leben als normaler Teenager in einer normalen High School, das mir immer verwehrt geblieben ist. Freunde, Trophäen mit meinem Namen darauf und eine Beziehung mit einem Jungen, der zufällig genauso aussieht wie du und den ich ihn auch immer wieder mit deinem Namen anzusprechen scheine.“ Ich reckte mein Kinn ein wenig in die Höhe, um für einen kurzen Moment dieses wunderbare Gefühl der reizvollen Macht genießen zu können. „Meine Eltern sind in meinem Traum stolz auf alles, was ich tue, und ich habe sogar einen kleinen Bruder, der zu mir aufsieht. Ich werde wie ein Mensch behandelt und nicht wie ein Bastard, der von der Öffentlichkeit versteckt gehalten wird.“

„Deine Träume reflektieren deinen Wunsch und deine Sehnsucht nach einem normalen Leben; nach einer normalen Familie und der Liebe.“ Luke fuhr mit der Zunge über seine Lippen und ich konnte ihm deutlich ansehen, wie unangenehm er sich gerade fühlte. „Du versuchst in deinen Träumen vor der Realität zu fliehen, weil du es nicht ertragen kannst, eingesperrt zu sein und vielleicht auch noch immer nicht wahrhaben kannst, was du damals getan hast.“

„Und warum enden dann meine Träume immer auf die gleiche Art und Weise? Mit Blut an meinen Händen und du an meiner Seite, der mich Prinzessin nennt, mir seine Hilfe verspricht und mit sanfter Stimme sagt, wie wundervoll das ganze Blut meine Augen zur Geltung bringen würde?“ Ich löste mich von der Steinmauer, an der mein Rücken lehnte, und ließ meine Beine über die Bettkante baumeln. „Wenn ich meine Taten wirklich nicht wahrhaben könnte, würde ich nicht immerzu in einer solch wunderschönen Form davon träumen. Eingesperrt in einem perfekten Kleinstadtleben und meine Hände nach wie vor in Blut getränkt.“

„Vielleicht ist es auch einfach nur ein Zeichen, dass die Therapie und die Medikamente nicht ihre gewünschte Wirkung zeigen – dass wir einen Weg in eine andere Richtung einschlagen müssen.“

Ich stieß ein heiseres Lachen aus und schüttelte meinen Kopf: „Du kannst es einfach nicht einsehen, dass es keinen anderen Weg für mich gibt, oder Luke? Dass ich auf einer Klippe stehe, von der es keinen Weg mehr zurück gibt – nur noch nach unten. Dass dieses bemitleidenswert aussehende Mädchen vor dir ein Monster ist und auch für immer eines bleiben wird.“

„Hör auf, dich ständig als ein Monster zu bezeichnen, Diana.“ Luke stand von seinem Stuhl auf und begann die wenigen Meter vor mir auf und ab zu laufen.

„Ich habe meine Eltern mit einem Küchenmesser umgebracht, Luke. Die Bezeichnung Monster erscheint mir da ziemlich passend.“ Ich erhob mich von meinem Bett und ging so viele Schritte in Richtung des vergitterten Fensters neben mir, wie es die Kette an meiner Hand zuließ. „Und solche Menschen gehören nun mal für immer eingesperrt. Ich habe mit dem Gedanken schon lange abgeschlossen, hier jemals wieder rauszukommen oder jemals von jemanden verstanden zu werden. Zwei Sorgen weniger, die mein jämmerliches Leben noch mehr erschweren könnten.“

Ich ließ meinen Blick über die Baumwipfel vor meinem Fenster gleiten. All die Blätter waren bereits vor Wochen dem Herbst zum Opfer gefallen, wodurch die Äste der alten Eiche nun schutzlos der bevorstehenden Kälte ausgeliefert waren. Ich konnte ganz deutlich spüren, dass Luke plötzlich nur noch wenige Schritte hinter mir stand und ich womöglich nur meinen Arm ein klein wenig nach hinten strecken musste, um ihn berühren zu können. Jeden anderen Menschen wäre ich bei dieser Gelegenheit vermutlich an die Kehle gesprungen, nur um für einen kurzen Moment den Puls unter meinen Fingern spüren zu können. Doch in der Gegenwart von Luke war ich ruhig und war für einen Moment nicht das Ungeheuer aus jeder Gutenachtgeschichte.

„Ich könnte jederzeit einen Tobsuchtsanfall bekommen und dich dabei womöglich verletzen. Wieso bist du mir trotzdem so nah?“, meine Stimme war nur ein trockenes Flüstern.

„Vielleicht weil ich davon überzeugt bin, dass du kein Monster bist, Diana.“

Die Kette an meiner Hand rasselte, als ich mich umdrehte und Luke mir nun so nah wie noch nie zuvor war.

„Ich werde mir früher oder später mein eigenes Ende setzen – eingesperrt in diesem eiskalten Gefängnis, als die Psychopathin, die außer dir jeder in mir sieht und die ich auch bin. Wieso kannst du mich nicht einfach als die akzeptieren, die ich bin?“

Ich blickte in seine vertrauten Augen und erkannte darin einen Ausdruck, den ich sonst nur von meinem eigenen Spiegelbild kannte. Von diesem bekannten Anblick gefesselt, spürte ich erst seinen sanften Griff um meine rechte Hand, als mich ein eiskalter Schauer durchfuhr.

„Weil jedes noch so eiskalte Gefängnis einen Weg nach draußen hat.“ Lukes Stimme war nur ein raues Flüstern, ehe er wieder von meiner Hand abließ und in Richtung Tür ging.
Er hob sein Notizbuch vom Boden auf und schloss die Zimmertür auf, bevor er sich ein letztes Mal zu mir umwandte und mit einem ungeheuerlich schönen Lächeln auf den Lippen sagte: „Und nein, man kann kein Monster bekämpfen, ohne dabei selbst eines zu werden. Aber vielleicht ist das auch gar nicht so schlimm.“

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Autorin: Larissa A. Jank studiert Kreatives Schreiben und Texten in Berlin an der SOPA (Berlin School of Popular Arts)

Titelbild from Larissa A. Jank (@neptun_vii)

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