Aha-Momente einer Schreibenden

Die Autorin Tabea Neu, Studentin des Studiengangs Kreatives Schreiben an der SOPA (Berlin School of Popular Arts), stellt ihren Text zur Figurenentwicklung Aha-Moment einer Schreibenden vor.

Die Figurenkonstruktion ist wohl einer der wichtigsten Aspekte beim Geschichtenschreiben und doch war mir lange nicht bewusst, auf wie viele Dinge es dabei ankommt. Bei meinem bisherigen Schreiben habe ich mich rein von meinem Bauchgefühl leiten lassen, und – versteht mich nicht falsch – dieses Gefühl wird beim Erschaffen fiktiver Geschichten immer eine große Rolle spielen! Aber wie lebendig könnten unsere Texte erst sein, wenn wir unsere Intuition mit ein bisschen Wissen untermauerten? 

In den vergangenen Wochen habe ich mich im Bereich “Figurenentwicklung” mit genau dieser Frage auseinandergesetzt und möchte euch heute an meinen persönlichen Aha-Momenten teilhaben lassen. 

  1. Ran an die Stereotypen!

Die Typisierung ist die wohl amüsanteste Vorgehensweise, um sich an die Figurenentwicklung heranzuwagen. Und ja, ich weiß, was ihr jetzt denkt: Wollen wir nicht eigentlich eine Gesellschaft frei von Vorurteilen erreichen? Warum dann auch noch in unseren Texten darauf herumreiten? 

Die Antwort darauf ergibt sich womöglich aus den nächsten Zeilen. 

Ich spreche nämlich nicht von all den Klischees, die an wahrscheinlich jedem Küchentisch dieser Welt schon einmal zum Streit geführt haben. Nein, ich rede von Stereotypen, von denen wir noch gar nicht wissen, dass es sie gibt. Jede Person, der ihr begegnet, ist eine potenzielle Quelle der Inspiration. 

Ist vielleicht heute ein Anzugträger auf einem E-Scooter an euch vorbeigerauscht oder habt ihr euch mal wieder gefragt, wer eigentlich für diese … interessante Balkondekoration gegenüber verantwortlich ist? Schreibt es auf! Was tun diese Menschen den ganzen Tag? Wie leben sie, wo arbeiten sie, was wollen sie? Das alles sind Fragen, die ihr beantworten dürft, ohne die Antworten tatsächlich zu kennen, denn ab hier beginnt die Fiktion. Noch nie hat es mehr Spaß gemacht, mit offenen Augen durch die Gegend zu spazieren!

  1. Menschen haben Probleme – Figuren auch. 

Ich wollte es anfangs nicht wahrhaben, aber ein perfekt funktionierendes Leben interessiert leider niemanden. Weder in der Realität noch in der Fiktion. Denn seien wir mal ehrlich, was wären wir ohne das ganze Drama? Genau: langweilig! Haben wir erst verstanden, was uns Menschen ausmacht – nämlich Konflikte, Ängste und Zweifel -, können wir Figuren wahrhaftig zum Leben erwecken. Auf der Suche nach der Tiefe meiner Figuren bin ich auf eine Methode gestoßen, die mir besonders dabei geholfen hat, all ihre Schichten zu ergründen: 

  1. Der Steckbrief, mein neuer bester Freund.

Diese Herangehensweise ist einfach und birgt endlos viele Möglichkeiten. Dabei beantwortet ihr nacheinander eine Reihe grundlegender Fragen zu eurer Figur. Ihr werdet merken, die Zeit des Grübelns beginnt eventuell schon bei der Suche nach einem Namen, denn dieser ist oft von größerer Bedeutung, als man denkt. Bevor ihr euch allerdings zu lange an einer einzelnen Stelle wie dieser aufhaltet, überspringt sie lieber, um erstmal in einen Schreibfluss zu geraten. Der entsteht erfahrungsgemäß wie von allein, sobald ihr in ganzen Sätzen schreibt. Bei mir haben sich durch das Ausformulieren ganze Hintergrundgeschichten zu den einzelnen Fragepunkten einfach verselbstständigt, sodass ich Satz für Satz ein detaillierteres Bild vor Augen hatte. 

Ein solcher Steckbrief heißt für mich Freiheit. Ihr könnt erfinden, wen und was ihr wollt. Und das führt mich zu der Erkenntnis, die mir persönlich am meisten bedeutet:

  1. Je mehr Figuren, desto mehr Empathie.

Jede erfundene Figur wird zu einer/einem Vertrauten. Selbst der Versuch, absichtlich einen Charakter zu erschaffen, den ich zutiefst verabscheuen müsste, endete damit, dass ich ihn letztendlich doch lieben gelernt habe. Der Grund dafür ist genauso genial wie offensichtlich: 

Ich weiß alles über die Figur. Ich kenne ihre Hintergründe, ihre Vergangenheit, ihre Stärken und Schwächen, ihre Sorgen und ihren Humor. Das macht es mir unmöglich, kein Verständnis für ihr Handeln aufzubringen. In diesem Sinne verstehe ich das Entwickeln von Figuren als Lernfeld der Empathie. Wüssten wir genauso viel über unsere Mitmenschen wie über die Figuren in unseren Köpfen, wäre die Welt vermutlich ein besserer Ort.

Also lasst uns schreiben! Lasst uns so viele Figuren erschaffen, bis wir jedem einzelnen Menschen auf dieser Erde mit Verständnis begegnen können. 

Autorin: Tabea Neu studiert Kreatives Schreiben und Texten in Berlin an der SOPA (Berlin School of Popular Arts).

Titelbild from @Asal Lotfi by @unsplash

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